Barrierefreiheit: Eine Haltung der Offenheit

  Thomas Eibich   Lesezeit: 6 Minuten  🗪 4 Kommentare Auf Mastodon ansehen

Mit diesem Artikel startet unsere neue Kolumne zum Thema Barrierefreiheit. Darin beleuchten wir viele Aspekte, die die Arbeit von Menschen mit Behinderungen am Linux-Computer erschweren oder erleichtern.

barrierefreiheit: eine haltung der offenheit

Einleitung: Eine veränderte Perspektive auf Open Source

Hallo, alle Leserinnen und Leser von gnulinux.ch! Ich bin Thomas und lebe in Wendelstein, südöstlich von Nürnberg im schönen Mittelfranken. Beruflich bin ich Heilpädagoge und arbeite als Fachlehrer an einer Fachschule für Heilerziehungspflegeberufe. Mein Berufsleben habe ich mit Menschen mit Behinderungen verbracht. Open Source ist seit den 1990er Jahren ein zentrales Thema für mich, als ich auf Linux stieß. Damals bin ich recht schnell bei Debian gelandet (Debian 2.0 hamm) und bin dieser Distribution bis heute treu geblieben. Aktuell nutze ich Debian 12 stable mit dem Gnome Desktop und Flatpak, um bei bestimmten Programmen auf dem aktuellen Stand zu sein.

Heute beginne ich eine neue Kolumne, in der wir über ein Thema sprechen werden, das mir besonders am Herzen liegt: Barrierefreiheit und Inklusion in der Open-Source-Welt. Dabei ist es mir wichtig zu betonen, dass diese Kolumne keine Anklageschrift ist. Mein Ziel ist es vielmehr, den Blick der Menschen zu weiten und für ein besseres Verständnis zu werben, um einen konstruktiven Dialog anzuregen.

Was bedeutet Barrierefreiheit wirklich? Eine grundlegende Klärung

Wenn wir von Barrierefreiheit sprechen, denken viele zuerst an Rampen oder breite Türen – also an die physische Zugänglichkeit. Das ist wichtig, aber Barrierefreiheit geht viel, viel weiter. Sie bedeutet die uneingeschränkte Nutzungsmöglichkeit für alle Menschen, unabhängig von ihren individuellen Fähigkeiten und Behinderungen. Und hier liegt die Crux: Es gibt nicht die eine Patentlösung oder ein starres Gerüst von Definitionen, das für jeden Menschen und jede Situation passt. Barrierefreiheit und Inklusion sind zutiefst individuelle Angelegenheiten.

Die gesellschaftliche Verpflichtung zur Barrierefreiheit ist in den deutschsprachigen Ländern klar verankert.

In Deutschland wurden die Rechte von Menschen mit Behinderungen am 15. November 1994 im Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 des Grundgesetzes eingefügt [1], wodurch Diskriminierung aufgrund einer Behinderung explizit verboten ist. Deutschland hat zudem am 24. Februar 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention [2] ratifiziert, die die volle und wirksame Teilhabe von Menschen mit Behinderungen fordert.

In Österreich wurde das Diskriminierungsverbot in Artikel 7 Absatz 2 des Bundes-Verfassungsgesetzes [3] am 1. Januar 1998 in Kraft gesetzt. Das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz (BGStG) [4] trat am 1. Januar 2006 in Kraft. Österreich war zudem einer der ersten EU-Staaten, der die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert hat, was am 26. September 2008 geschah (Inkrafttreten am 26. Oktober 2008).

In der Schweiz ist das Diskriminierungsverbot in Artikel 8 Absatz 2 der Bundesverfassung [5] seit dem 1. Januar 2000 verankert und wurde durch das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) [6] vom 1. Januar 2004 konkretisiert. Die Schweiz hat die UN-Behindertenrechtskonvention am 15. April 2014 ratifiziert, welche am 15. Mai 2014 in Kraft trat.

Diese Entwicklungen in unseren Ländern zeigen, dass wir als Gesellschaft rechtlich und ethisch verpflichtet sind, Barrieren abzubauen – und das gilt selbstverständlich auch für digitale Räume, Software und Veranstaltungen.

Barrierefreiheit äußert sich in vielfältigen Aspekten, die sich an den individuellen Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen orientieren. Das umfasst:

  • Zugänglichkeit von Informationen und Bedienung: Informationen und Bedienelemente müssen wahrnehmbar und bedienbar sein. Das bedeutet zum Beispiel, dass Bilder Textbeschreibungen haben, Videos Untertitel bieten und Software mit Screenreadern nutzbar ist. Hierzu zählt auch die Unterstützung von Braillezeilen, die mit Screenreadern zusammenarbeiten, wie es bei Debian und Ubuntu 'out of the box' der Fall ist. Auch die Tastaturbedienung ist essenziell, ebenso wie die Unterstützung von alternativen Eingabegeräten, zum Beispiel Kopf- oder blickgesteuerte Mäuse, die mit einer Bildschirmtastatur arbeiten.
  • Verständlichkeit der Inhalte: Ein wichtiger Punkt, der oft vergessen wird, ist die Verständlichkeit für Menschen mit kognitiven Behinderungen oder Lernschwierigkeiten. Das bedeutet, dass etwa Installationsprozesse oder Anleitungen in leichter Sprache vorliegen müssen. Wir dürfen nicht unterstellen, dass jeder Nutzer, auch wenn er blind ist, kognitiv die gleiche Leistung erbringen kann.
  • Technische Zuverlässigkeit: Digitale Inhalte müssen technisch so robust sein, damit sie von einer Vielzahl von Technologien, inklusive assistierender Technologien, zuverlässig interpretiert werden können.
  • Physische und organisatorische Erreichbarkeit: Und natürlich ist es entscheidend, dass auch physische Orte und Veranstaltungen erreichbar sind – von der Anreise bis zum Programm vor Ort.

Doch Barrierefreiheit ist eigentlich nur das Werkzeug oder die Voraussetzung für etwas Größeres: Die Inklusion. Inklusion bedeutet, dass alle Menschen, unabhängig von ihren Fähigkeiten, vollständig und gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben können und wollen. Es geht nicht nur darum, dass technische Hürden abgebaut werden, sondern auch darum, dass sich jeder willkommen und zugehörig fühlt und seine Perspektive als Bereicherung gesehen wird. Wenn wir also über barrierefreie Software, Dokumentationen oder Veranstaltungen sprechen, ist das der Weg, um das eigentliche Ziel – eine wirklich inklusive Open-Source-Community – zu erreichen. Das eine bedingt das andere.

Open Source: Eine Haltung, die über Software hinausgeht

Der Begriff "Open Source" wird oft auf Software reduziert, dabei steckt viel mehr dahinter. Open Source ist nicht nur eine Lizenzform für Software (wie z.B. bei Linux oder Firefox), sondern ein umfassenderes Konzept von Transparenz, Zugänglichkeit, Kollaboration und dem freien Teilen von Wissen. Diese Prinzipien finden auch in anderen Bereichen Anwendung, wie bei Open Educational Resources (OER), Open Access (für wissenschaftliche Publikationen), Open Hardware oder Creative-Commons-Lizenzen für kreative Werke.

Die philosophische Haltung dahinter ist die Überzeugung, dass Wissen und Innovation ein Gemeingut sind, das für alle zugänglich sein sollte. Es ist der Glaube, dass gemeinsame Entwicklung und freier Zugang zu besseren Ergebnissen für die gesamte Gesellschaft führen. Open Source beruft sich auf den Anspruch der Offenheit und Zugänglichkeit 'für alle'.

Fazit und Ausblick auf die Reihe

Die Verpflichtung zur Barrierefreiheit und die Open-Source-Philosophie sind untrennbar miteinander verbunden. Wenn Open Source seinem Ideal der Zugänglichkeit für alle wirklich gerecht werden will, muss Inklusion als Kernwert gelebt werden.

In den folgenden Artikeln dieser Kolumne werde ich mich weiterhin mit dem spannenden und vielschichtigen Thema Barrierefreiheit und Inklusion in der Open-Source-Welt beschäftigen. Ich werde meine persönlichen Erfahrungen teilen und unterschiedliche Aspekte beleuchten. Mein Ziel ist es, aufzuzeigen, wo wir als Community bereits gut sind, aber auch, wo es noch Verbesserungspotenziale und Handlungsbedarf gibt. Dabei kann ich mir auch gut vorstellen, gelegentlich Interviewpartner einzubeziehen oder vor Ort in Einrichtungen der Behindertenhilfe konkrete praktische Anwendungen zu erkunden.

Die genaue Auswahl und Reihenfolge der Themen wird sich dabei ergeben, je nachdem, was gerade relevant ist oder welche Gedanken sich entwickeln.

Ich freue mich sehr darauf, diesen Dialog mit Euch zu beginnen!

Titelbild: https://pixabay.com/illustrations/accessibility-disability-1682903/ (bearbeitet)

Quellen und weiterführende Informationen:

[1] Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG), Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_3.html

[2] UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) https://www.behindertenbeauftragter.de/DE/AS/rechtliches/un-brk/un-brk-node.html

[3] Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), Artikel 7 Absatz 1 (Österreich) https://www.ris.bka.gv.at/eli/bgbl/1930/1/A7/NOR40152496

[4] Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz (BGStG) (Österreich) https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20004228

[5] Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (BV), Artikel 8 Absatz 2
https://www.verfassungen.ch/verf99-i.htm

[6] Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz, BehiG) (Schweiz) https://www.ebgb.admin.ch/de/behindertengleichstellungsgesetz-behig

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Barrierefreiheit, Zugänglichkeit

Henning
Geschrieben von Henning am 7. Juni 2025 um 13:27

Als blinder, langjähriger Nutzer von Linux und freier Software freue ich mich sehr über die Kollumne hier und bin schon gespannt auf die weiteren Artikel. Danke Dir Thomas, daß Du das Thema hier in den Fokus rückst. Zu beleuchten gibt es wahrhaftig genug, sei es die Schwierigkeit, mit wenigen Helfern etwas komplexes wie ein Accessibility-Subsystem zu spezifizieren, zu entwerfen und in möglichst viele UI-Toolkits zu bringen und auf dem laufenden zu halten oder seien es die zusätzlichen Herausforderungen von zugänglichen Linux-Desktops und Anwendungen, die durch die Vielfalt der Distributionen und ihren Installern, den verschiedenen Desktop-Umgebungen und UI-Toolkits entstehen. Oder sei es die Entwicklung von Gnome und speziell GTK, wo die Zugänglichkeit für Blinde in den letzten Jahren durchaus an einigen Stellen gelitten hat - und das trotz Human Interface Guidelines, obwohl sich die GNOME-Entwickler und -Designer des Themas durchaus bewusst sind und ohne den unermüdlichen Einsatz einiger genialer Menschen die Situation noch wesentlich übler wäre. Nicht zu vergessen auch die Schwierigkeiten für Screenreader und andere Zugänglichkeitstechnologien durch Sandboxing und andere Sicherheitskonzepte wie Flatpak oder Wayland. ... und rückt vielleicht das Thema Barrierefreiheit durch den zunehmenden Einsatz von FOSS im öffentlichen Dienst zukünftig stärker in den Fokus?

Vielleicht gehen Deine Gedanken aber auch in andere Richtungen. Ich bin jedenfalls gespannt.

Viele Grüße aus Nürnberg! :-)

Thomas
Geschrieben von Thomas am 9. Juni 2025 um 09:38

Hallo Henning, wie schön, ein Kommentar aus der Nachbarschaft. Vielen Dank für Deinen Beitrag. Du bringst auch eine ganz wichtige Perspektive auf das Thema und zeigst auf wie komplex es doch ist, aber wie einfach es in den Köpfen vermutet wird. Die einzelnen Aspekte die Du hier vorträgst wären schon jeder für sich ein eigener Artikel. Wenn Du Lust hast Dich an der Kolumne zu beteiligen, dann mach das gerne. Und da Du in meiner Region bist, könnten wir auch persönlich in das Gespräch kommen und damit die Kolumne bereichern. Es ist ein sehr wichtiges Thema und es ist wichtig die vielen Perspektiven zu zeigen um ein breites Verständnis zu schaffen. Vielen Dank für Deinen wertvollen Beitrag.

Christopher
Geschrieben von Christopher am 9. Juni 2025 um 00:03

Hallo Thomas,

vielen Dank für den Podcast und diesen ersten Artikel bzw. Kolumne. Ich habe seiner Zeit mit Woody (glaube 3.x) angefangen und bin Debian bis heute treu geblieben. Von den Flatpaks mal abgesehen, habe ich mich auch GNOME seit vielen Jahren zugewandt. Davon abgesehen das ich seiner Zeit Zivildienst geleistet habe, ist die Beziehung zu eingeschränkten Menschen eher rudimentär. Dennoch finde ich die Idee super und warte auf die weiteren Beiträge der Kolumne. Mir stellen sich beim lesen ein paar Fragen und du kannst vielleicht helfen. Die Ressourcen für die freie Entwicklung sind ohne hin schon recht knapp. Ich denke nicht, dass es eine Verpflichtung gesetzlicher Natur bei Open Source gibt. In wie weit fühlen sich die Entwickler hier verpflichtet auf die Barrierefreiheit einzugehen? In wie weit ist das von Erfolg in den einzelnen Projekten gekrönt? Gibt es hier belastbare Zahlen? Gibt es bei proprietären Software Entwicklungen Verpflichtungen und Zahlen dazu? Wie sie das bei staatlichen Software Projekten aus? Hier würde ich eine gesetzliche Vorgabe erwarten. Liege ich falsch? Ich wusste, dass Debian beim Thema Barrierefreiheit (großes) etwas Leister, aber in welchem Umfang, eher nicht. Woher auch! Wäre hier ein eigener Beitrag über Debian und die Barrierefreiheit eine Idee? Mich würde das interessieren in wie weit Debian sich hier abhebt von anderen Distributionen und warum das ggf. so ist. Was leistet Linux im Vergleich zu Windows oder MacOS? Was ist technisch alles möglich (du hattest schon Andeutungen gemacht)? Du siehst, da poppen ein paar Fragen hoch. Ich würde mich über Antworten freuen🤗 VG Christopher

Thoys
Geschrieben von Thoys am 9. Juni 2025 um 17:15

Hi, da bin ich super gespannt, was du aus der Praxis berichtet. Wenn ich eine Frage einbringen darf: Wie siehst du das aus der Praxis, was die Welt macht und was der einzelne?

Beispiel: Ich bin Kurzsichtig. Entweder bringe ich nun alle Verkehrshöfe dazu größere Straßenschilder zu bauen, oder ich kaufe mir eine Brille. (Natürlich habe ich zweiter es getan.)

Doch wie sieht das im Digitalen aus? Beispiel: In BW muss jede Schulhomepage barrierefrei sein. Das beinhaltet viele Dinge, die ich nachvollziehen kann (Metadaten für Bilder, gute Kontraste uvm.) aber auch Gebärdenvideos der Menüführung, einer Kurzbeschreibung und der Barrierefreiheitserklärung. Das kostet die Schule super viel Geld, Nerven und Zeit und derzeit muss man lange warten, bis man einen Gebärder findet.

Nun zu meiner Frage: Ist es wirklich so, dass jeder eingeschränkte die Tools der Homepage nutzt oder hat eh jeder SEINEN Screenreader und sein tool? Die theoretische Zielgruppe für die genannten Videos ist so klein, wenn sogar gar nicht vorhanden. Und das Geld fehlt bei der Bildung.

Wäre es also nicht besser, dass die Kassen (also die Gemeinschaft) die Eingeschränkten mit geilen Unterstutzungstechniken ausstatten würden (so, wie ich mit meiner Brille) und dafür ALLE Schulen viel Geld sparen würden? Und nerven! Die Schulleitungen kämpfen da sehr und die Reeource Zeit und Geld wird dann bei den Schülelern abgezogen.

Wie siehst du das aus der Praxis? Wo sagst du, soll der einzelne ausgestattet werden und wo sollten alle anderen nachrüsten?

Und wo kann das diskutiert werden. Bisher gibt es nur "Das müsst ihr halt machen." Wenn die Schulen wüssten, dass es wirklich sinnvoll ist und zur Integration eiträgt, dann wäre zumindest klar, warum man es macht.

Danke dir Thoys