Zum Wochenende: Alternativlos und technologieoffen

  Ralf Hersel   Lesezeit: 4 Minuten Auf Mastodon ansehen

Wenn vordergründig positive Begriffe zum Spielball von politischen Argumenten werden, sollte man hellhörig werden und diese Begriffe hinterfragen.

zum wochenende: alternativlos und technologieoffen

Das Unwort des Jahres wird seit 1991 in Deutschland bis zum Jahresende von einer Jury gewählt. Aktuell geschieht das durch das Institut für Germanistische Sprachwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg unter der Leitung von Prof. Dr. Constanze Spieß. Zur Definition der Unwörter, liest man auf der Marburger Seite:

Sprachliche Ausdrücke werden dadurch zu Unwörtern, dass sie von Sprecher:innen entweder gedankenlos oder mit kritikwürdigen Intentionen vor allem im öffentlichen Kontext verwendet werden. Die Reflexion und Kritik des Gebrauchs von Unwörtern zielt dabei auf die Sensibilisierung für diskriminierende, stigmatisierende, euphemisierende, irreführende oder menschenunwürdige Sprachgebräuche und auf die Verantwortlichkeit der Sprecher:innen im Hinblick auf sprachliches Handeln.

Die Unwörter der letzten 33 Jahre findet ihr hier. Das Unwort des Jahrhunderts heisst: "Menschenmaterial".

Bei der Recherche zur Podcast-Folge CIW158, kamen mir zwei Wörter in den Sinn, die mir in den letzten Jahren als potenzielle Unwörter aufgefallen sind. Obwohl ich diese nicht der Jury vorlegen möchte, schreibe ich jetzt darüber im Kontext von "Freier Software und Freier Gesellschaft".

Alternativlos

Dieses Wort höre ich oft, wenn es um die Abkehr von proprietärer Software und Betriebssystemen geht. Hier sind ein paar exemplarische Ausreden:

  • Windows ist alternativlos, wenn es um Spiele geht.
  • Die Microsoft-365-Cloud ist alternativlos.
  • Adobe ist alternativlos.
  • Für das Spezialprogramm XY gibt es keine Alternative. (Beim Wienux-Projekt war es eine Sprachförderlösung für Kindergärten).

"Alternativlos" ist ein politisches Schlagwort, welches die Möglichkeit von Lösungen bestreitet. Der Begriff ist zutiefst konservativ im Sinne von "das haben wir immer so gemacht", bzw. "das haben wir noch nie so gemacht". Eine Argumentation, die Alternativen ausschliesst, ist keine Argumentation, sondern ein Verharren in der Kompromisslosigkeit. Wer "alternativlos" ist, verweigert sich dem Diskurs und steckt den Kopf in den Sand.

Wenn es um Computersysteme und Software geht, wird der Begriff "alternativlos" meist aus einer Komfortzone betrachtet:

Wenn ich die Wahl zwischen GIMP und Photoshop habe, entscheide ich mich für das Adobe-Produkt, weil ich es kenne und daran gewöhnt bin. Ausserdem ist es der Industriestandard. Alle Designer nutzen es und es kann bestimmt mehr als GIMP. GIMP ist für mich keine Alternative!

Selbst wenn wir ignorieren, dass das (erfundene) Zitat vor Logikfehlern strotzt, ist es dennoch falsch. Man geht von der Annahme aus, dass Photoshop (oder: MS365, AWS, ChatGPT, Windows, Google, etc.) aus politischen, ethischen, rechtlichen, finanziellen, ökologischen oder wirtschaftlichen Gründen überhaupt eine Option ist. Wer daran glaubt, ist immer noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen. Die realistische Annahme ist, dass die erwähnten Produkte aus den genannten Gründen nicht mehr nutzbar sind.

Und wenn Herrn Trump nächste Woche eure Nase nicht mehr gefällt, könnt ihr dieselbe stolz in den Wind strecken und weiterhin über die Alternativlosigkeit von Oracle oder CISCO schwafeln. Wer mit "alternativlos" argumentiert, verdrängt die Realität und wähnt sich im Wolkenschloss. Wer keine Alternativen hat, rennt lachend in die Kreissäge.

"Alternativlos" muss ich nicht mehr als Unwort des Jahres vorschlagen, weil das bereits von Angela Merkel im Jahr 2010 erledigt wurde.

Technologieoffen

Hey, das klingt doch viel positiver als "alternativlos". Darin sind zwei progressive Wörter enthalten: "Technologie" und "offen". Das klingt doch fast wie "Freie Software". In den letzten Jahren haben wir das Adjektiv "technologieoffen" meist in einem politischen Kontext gehört.

Technologieoffenheit ist ein Konzept, welches die Ausgestaltung von technologischen Transformationsprozessen charakterisieren soll. Häufig wird Technologieoffenheit in der politischen Debatte jedoch als politisches Schlagwort oder rhetorisches Stilmittel verwendet, um die Einführung spezifischer Technologien zu verlangsamen oder zu verhindern, und somit den Status quo aufrechtzuerhalten. (Wikipedia)

Die Übersetzung für "Technologieoffenheit" lautet "nach mir die Sintflut". Wer mit diesem Begriff argumentiert, hofft auf eine wundersame Lösung für technische Herausforderungen in einer unbestimmten Zukunft. Es offenbart das Fehlen einer Strategie in der Gegenwart. Technologieoffene Personen drücken sich vor der Verantwortung und haben keine zielführenden Ideen. Solche Leute möchten im Hier und Jetzt verharren.

Doch welche Bedeutung hat der Begriff im Kontext von Freier Software und Freier Gesellschaft? Jetzt wird es schwierig, weil der Begriff in diesem Kontext ein zweischneidiges Schwert ist. Politisch kann er von konservativen Akteuren genutzt werden, um Verantwortungslosigkeit zu verschleiern und den Status quo zu schützen. Technisch‑ethisch steht er für Plattformunabhängigkeit, Interoperabilität und Nutzerwahlfreiheit, also für eine vorwärtsgerichtete Haltung gegenüber Innovation.

Die Herausforderung besteht darin, im jeweiligen Diskurs klar zu benennen, welche Bedeutung gerade im Vordergrund steht, und die dahinterliegenden Absichten kritisch zu hinterfragen. So kann verhindert werden, dass ein Prinzip durch politische Rhetorik entwertet wird.

Titelbild: (bearbeitet) https://pixabay.com/photos/scale-justice-weight-health-2634795/

Quellen:

https://de.wikipedia.org/wiki/Unwort_des_Jahres_(Deutschland)

https://www.unwortdesjahres.net/

https://de.wikipedia.org/wiki/Technologieoffenheit

Tags

alternativlos, technologieoffen, Widerspruch

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