Ich hab' noch nichts zu verbergen

  Lian Begett   Lesezeit: 4 Minuten  🗪 3 Kommentare

Privacy als Altersvorsorge.

ich hab' noch nichts zu verbergen

Privacy ist zu Recht ein Grundrecht. In der öffentlichen Darstellung aber werden Datenschützer oft als Aktivisten behandelt, die ein abstraktes, moralisches Prinzip über materielle Pragmatik stellen. Das Verlangen nach Privatsphäre wird angesichts immer präsenteren Terrorismus, Gewalttaten, Cybermobbing und Hatespeech immer wieder als privilegierter Luxus wahrgenommen. Wer sein Recht darauf verteidige, stelle sich damit egoistisch in den Weg von Ermittlungen, die reelle Gräueltaten verhindern könnten, wenn die Nachforschung nur legal wäre, so der Unterton. Aber dass ich heute noch nichts zu verbergen habe, kann sich morgen schon ändern.

Präzedenz

Die preussische Geheimpolizei sammelte während der Zeit des deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik fleissig Daten über das deutsche Volk. Das geschah mithilfe von V-Männern, altmodischer physischer Überwachung, Abhörung von Telefongesprächen.

1933 ging die Verantwortung über die innere Sicherheit auf die Gestapo über, und mit ihr auch die bereits gesammelten Daten und Akten. In den folgenden Monaten und Jahren kam es zu massenhaften Verhaftungen von Juden, Sinti und Roma, Antifaschisten, Sozialisten, Kommunisten, Homo- und Transsexuellen, Sozialdemokraten. Nicht nur denen, die damit in die Öffentlichkeit traten, sondern auch denen, die solche Dinge im Privaten beliessen oder auch nur passiv tolerierten. Schliesslich endete all das im grausamen Menschheitsverbrechen des Holocaust.

Woher kamen denn die Akten, die Daten, die Untersuchungen zur politischen Gesinnung, sexuellen Orientierung und Identität einzelner deutscher Bürger? Zu einem grossen Teil aus den Jahren der organisierten Datensammlung, die bereits vorher geschahen.

Man könnte sagen, man habe die Daten auf Vorrat gespeichert, sodass sie dann, als sie gebraucht wurden, zum Einsatz kommen konnten.

Unruhige Zeit, Zeit für Privacy

Wir leben in politisch und wirtschaftlich unruhigen Zeiten, und das führt, wie uns die Geschichte lehrt, zu Revolutionen und radikalen politischen Veränderungen. Das hat nicht nur Potenzial für Gutes, sondern auch bedrohliches. Heute werden bereits Unmengen an Daten gesammelt, nicht nur von einer Geheimpolizei des Innern, sondern von Konzernen und Auslandsgeheimdiensten auch. Auch völlig legale Eigenschaften wie sexuelle Orientierung, Religion und Weltanschauung oder Ideologie sind Teil des riesigen Datennetzes, das sie aus uns aufgebaut haben.

Wenn jetzt dann doch wieder die Zeit ist, dass beispielsweise ein Rechtsextremist oder Faschist die Macht in einem Land ergreift, wie es ja nicht unbedingt unwahrscheinlich aussieht (man schaue sich einmal Brasilien oder Russland an), hat er damit auch Zugriff auf die gesammelten Vorratsdaten der letzten Jahre und Jahrzehnte, die in seinen Händen sicherlich nicht zu guten Zwecken verwendet würden.

Es geht nämlich gar nicht darum, was man heute nicht preisgeben will, sondern was man vor der ungewissen Zukunft zu verbergen hat. Wer weiss denn, wie es mit unserem Land weitergeht? Vielleicht finden wir uns allzu bald in einem Krieg, oder unter einem Regime, das mit unseren völlig alltäglichen Identitäten oder Eigenschaften ein Problem hat. Vielleicht wird selbst die Freie Software zu einem kommunistischen Komplott umgedeutet, und wer Deepin benutzt, ist auf einmal ein chinesischer Agent und muss verhört werden. Der Punkt ist: Wir wissen es nicht. Deshalb ist es wichtig, nicht nur private-respektierende Software zu verwenden, sondern auch darauf zu bestehen, sie zu benutzen, wenn es um vermeintlich unschuldige Zwecke geht. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass nicht nur Whistleblower, Straftäter und revolutionäre Zellen ein Interesse an Privatsphäre haben, sondern alle, die vielleicht in der Zukunft für völlig legale Aktivitäten in unruhige Wasser geraten könnten.

Die Freie Software ist aus ihrer offenen Natur heraus die einzige Software, derer man die Gewissheit haben kann, was sie tut und ob die eigene Privatsphäre wirklich geschützt wird. Damit die Damokles-Datenberge nicht noch höher werden, ist sie nicht nur aus Prinzip, sondern auch sehr praktischen Gesichtspunkten notwendig.

Tags

Privacy, Wettbewerb, Schreibwettbewerb, Gesellschaft

ich
Geschrieben von ich am 13. Juli 2022 um 15:31

Ich nehme in der Öffentlichkeit nahezu ausschließlich den Blick nach rechts wahr, so auch hier und weil das Wort Rechtsextremist explizit erwähnt wurde, sei der Hinweis erlaubt, dass Linksextremisten ebenso gefährlich sind, verbunden mit dem analogen Vergleich "man schaue sich einmal alle Beispiele aus der Vergangenheit (Lenin, Stalin, Mao) an". Es wäre daher angebracht, nicht immer ausschließlich die Formulierung des Mainstreams aufzugreifen, sondern allgemein den Extremismus (dazu zählen ausnahmslos alle Formen, auch intolerante Glaubensrichtungen) anzuprangern, wie es korrekt wäre. Tja, nur leben wir in einer Zeit starker Polarisierung, sodass man bei solch übergreifende Ansichten schnell mal selbst als Nazi abgestempelt zu werden. ) eine Unart, die mit der Bedeutung des Begriffs nichts mehr zu tun hat und Ergebnis der inflationären Verwendung von verleumdenden Begriffen ist. Ist halt auch nicht mehr zeitgemäß, Kritikern zuzuhören, sondern verbal draufzuhauen.

kamome
Geschrieben von kamome am 15. Juli 2022 um 07:49

Ja – und man sollte sich für die Ausübung eines Grundrechts gar nicht erst rechtfertigen müssen!

Udo
Geschrieben von Udo am 21. Juli 2022 um 16:36

In diesem Zusammenhang denke ich immer an einen sehr packenden Roman, den ich mal gelesen habe: "NSA - Nationales Sicherheitsamt" von Andreas Eschbach. Die Geschichte geht davon aus, dass die Entwicklung der Computertechnologie sehr viel schneller stattgefunden hätte als in Wirlichkeit, so dass die Nazis bereits über Grossrechner und SQL-Datenbanken verfügen konnten, und welche Möglichkeiten sie dann dank Datenspeicherung und Anfänge von KI gehabt hätten. Wenngleich sicher keine grosse Literatur, dennoch spannend, lesens- und vor allem nachdenkenswert. Ein Roman kann sowas oft viel eindringlicher und nachhaltiger vermitteln als viele Sachartikel.