Zum Wochenende: Nenne es nicht Intelligenz

  Ralf Hersel   Lesezeit: 7 Minuten  🗪 2 Kommentare

Eine historische und philosophische Betrachtung der "Künstlichen Intelligenz". Oder warum man den Begriff nicht verklären sollte.

zum wochenende: nenne es nicht intelligenz

Die Geschichte der Menschheit ist geprägt von Entdeckungen, Erfindungen und Weiterentwicklungen. Die Biologie von Lebewesen ist auf die Anpassung an neue Umstände angewiesen, um überleben zu können. Das nennt man Evolution. Mit dieser Entwicklung wurde der Mensch aus eigenem Entdeckungsdrang und durch die Umwelt gefordert, immer wieder an Grenzen herangeführt.

Die Reaktionen auf diese Grenzerfahrungen waren über die Jahrmillionen immer andere. Wie der Fortschritt der Menschen folgten auch seine Erklärungen einer exponentiellen Kurve. Über Jahrmillionen wurde die Entwicklung der Natur oder einer unerklärlichen Macht zugeschrieben: "Die Natur schaffte das Feuer." Schon früh (ca. 100'000 Jahre zuvor (Achtung: das ist eine nicht recherchierte Annahme)) wurde die Natur langsam durch Geistgestalten abgelöst. Die Götter übernahmen die Forschungsabteilung. Das Unerklärliche wurde nicht mehr als "die Natur" hingenommen, sondern durch Überwesen (Naturgötter) erklärt. Vermutlich war es viel einfacher, Naturgötter für das Neue verantwortlich zu machen, als dieses ohne Verantwortliche hinzunehmen. Bald wurde die Werbung - wie wir sie heute kennen - entdeckt. Was ihr heute bei Amazon, Microsoft, Meta, und Google seht, hiess damals "Opfergabe".

Diese Erklärung wurde bis ins frühe Mittelalter akzeptiert. Dann wurden die Naturgötter von den Marketingabteilungen der Weltreligionen zur Unterwerfung des Volkes instrumentalisiert und organisiert. Aus den Opfergaben wurde der Gnadenakt des Ablasshandels in der römisch-katholischen Kirche. Ich schweife vom Thema ab, geht es doch in diesem Artikel um die Wahrnehmung des Fortschritts.

Die Industrialisierung begann Mitte des 18. Jahrhunderts durch die Erfindung der Dampfmaschine und der Massenproduktion von Gütern. Wie in den Jahrmillionen zuvor wurden die neuen Errungenschaften mit Bewunderung und Skepsis empfangen. Die Einen sahen ihren Arbeitsplatz im Handwerk schwinden; die Anderen bekamen neue Arbeitsplätze. Im Grossen und Ganzen hat sich diese Weiterentwicklung als positiv für die Bevölkerung herausgestellt. Die Befürchtungen traten nicht ein; der allgemeine Wohlstand stieg an.

Ab dem Jahr 1950 wandelte sich die industrielle Gesellschaft langsam zu einer Dienstleistungs-Ökonomie. Die Muskelkraft wich der Geisteskraft. Die Erfindungen bei den Kraftmaschinen hielten zwar weiterhin an, wurden aber zunehmend von Neuerungen im geistigen Sektor überholt. Einer der ersten Taschenrechner wurde Anfang der 70er-Jahre von Texas Instruments entwickelt.

Was denkt ihr, wie diese technische Leistung von der Wissenschaft, den Firmen und der Bevölkerung aufgenommen wurde? War es die Erfindung des Feuers, oder eine neue Dampfmaschine? Nein, es war die "künstliche Intelligenz"; es war das "Elektronen-Gehirn"; es war der Niedergang von "Rechnern", was damals eine Berufsbezeichnung für rechnende Menschen war. Und nun kommt die Kernaussage dieses Artikels, der AI-Effect, wie man ihn hier nachlesen kann.

Künstliche Intelligenz ist alles, was noch nicht getan wurde. (Wikipedia)
    oder besser:
Künstliche Intelligenz ist alles, was gerade getan wurde. (Kathrin Passig)

Bevor ich weiterschreibe, empfehle ich euch dieses Video von Kathrin Passig zur historischen Entwicklung der künstlichen Intelligenz und zur Einordnung des Begriffes "Künstliche Intelligenz":

Ganz einfach gesagt, bezeichnet man Intelligenz als geistige Leistungsfähigkeit. Im Allgemeinen wird der Begriff auf Lebewesen, insbesondere den Menschen, bezogen. Kommt geistige Leistungsfähigkeit von Maschinen, spricht man von künstlicher Intelligenz. Der simple Taschenrechner hat eine geistige Leistungsfähigkeit, er kann rechnen. Ob die Rechenleistung einem Gehirn oder einem Microchip entstammt, spielt keine Rolle. Das Ergebnis zählt: 2 + 2 = 4.

Als in den Siebzigerjahren die ersten Taschenrechner für Konsumenten auf den Markt kamen, habe ich mir die Nase am Schaufenster platt gedrückt, wegen dieses Wunderdings der künstlichen Intelligenz. Heute käme niemand mehr auf die Idee, einen Taschenrechner als KI zu bezeichnen. Wir haben uns daran gewöhnt und die technologische Reise ist weitergegangen.

Heute schauen wir mit Erstaunen, Angst und Hoffnung auf das nächste grosse Ding. Die geistigen Leistungen der grossen KI-Modelle (GPT, Midjourney, Whisper, usw.) kannten wir bisher noch nicht. Rechnen ist ja ganz nett, aber eine Unterhaltung führen, Bilder erzeugen, Musik komponieren oder Sprache transkribieren haben wir in dieser Qualität bisher noch nicht gesehen. Deshalb erscheint uns das Attribut "intelligent" angemessen. Auch hier geht es wieder um das Ergebnis. Dass ChatGPT lediglich aufgrund statistischer Verteilung ein paar Wörter aneinanderreiht, rückt in den Hintergrund. Es ist das Neue, das Pseudo-menschliche, das noch nie Dagewesene, was uns fasziniert.

In ein paar Jahren werden die Ergebnisse der aktuellen KI-Modelle als völlig normal empfunden; so wie wir heute den Taschenrechner empfinden. An ihre Stelle treten die dann neuen technologischen Errungenschaften, die uns zum Staunen bringen. Oder, um es mit Kathrin Passigs Worten zu sagen: "Künstliche Intelligenz ist alles, was gerade getan wurde."

Vom amerikanischen Computerwissenschaftler Michael Kearns stammt der schöne Satz: "Die Menschen versuchen unbewusst, sich eine besondere Rolle im Universum zu sichern." Das sieht man daran, wie oft die Definition von künstlicher Intelligenz geändert wurde. Als die ersten Maschinen den Turing-Test bestanden, hat man schnell die Latte etwas höher gelegt und den Test schwieriger gestaltet, denn die "besondere Rolle" war in Gefahr. Genau das ist geschehen, als ich vorhin schrieb: "ChatGPT, das ist doch nur eine statistische Aneinanderreihung von Wörtern." Ich habe die Messlatte, was denn Intelligenz sei, ein wenig höher gelegt, um die "Rolle des Menschen als Krone der Schöpfung" zu bewahren.

Und das wird so weitergehen:

  1. Eine neue, erstaunliche Technologie kommt auf.
  2. Der Mensch hadert mit seiner Position in der Welt.
  3. Die Definition von Intelligenz wird geändert.
  4. Alles ok; wir sind wieder "Krone der Schöpfung".

Das wird so lange gut gehen, bis uns nichts mehr einfällt, was uns von den Maschinen unterscheidet.

Quellen:

Kathrin Passig: https://de.wikipedia.org/wiki/Kathrin_Passig

Kathrin Passig: Die Vergangenheit der Zukunft: 70 Jahre Künstliche Intelligenz: https://tube.bawü.social/w/1c464828-a83e-4ff9-b264-197ba7968204

Intelligenz: https://de.wikipedia.org/wiki/Intelligenz

Tags

KI, AI, Künstliche Intelligenz, Historie, Intelligenz

Art
Geschrieben von Art am 5. Mai 2023 um 23:59

Vielen Dank für den Artikel.

In diesem Zusammenhang hat mir der Ansatz "Artificial Intelligence" durch "Systematic Approaches to Learning Algorithms and Machine Inferences" gefallen: wenn ich dann überall statt der Abkürzung AI die neue SALAMI verwende, sind Diskussionen zum Thema viel unterhaltsamer/absurder - es startet nicht mehr mit "magischer, postulierter Intelligenz" sondern ich habe "zusammengepresste Proteine, Fette, Kohlenhydrate" vor Augen:

"Now we have redefined the name, will we still support the idea that SALAMI will develop some form of consciouness ?"

Quelle: https://blog.quintarelli.it/2019/11/lets-forget-the-term-ai-lets-call-them-systematic-approaches-to-learning-algorithms-and-machine-inferences-salami/

kamome
Geschrieben von kamome am 11. Mai 2023 um 09:01

Das Ergebnis zählt: 2 + 2 = 4.

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