Zum Wochenende: Schere im Kopf

  Ralf Hersel   Lesezeit: 6 Minuten  🗪 6 Kommentare

Selbstzensur betrifft uns alle. Ihr habt es nur noch nicht bemerkt.

zum wochenende: schere im kopf

Am vergangenen Mittwoch gab es in unserem TALK-Chat eine angeregte Diskussion zwischen DxU und mir über eine Aussage meinerseits in der Podcast-Folge GLN024. Dort hatte ich zum Thema "The State of Mass Surveillance" den Begriff "Schere im Kopf" mit einem Beispiel aus der ehemaligen DDR erläutert.

Fragt man Bekannte, die in der DDR aufgewachsen sind, hört man von diesen oft folgende Aussage:

Die ahnungslosen Kinder wurden gefragt, ob die Uhr bei den Nachrichten für die Stunden Punkte oder Striche hatte. Danach wusste dann der Lehrer (und hinter ihm die Stasi) ob die Eltern Westfernsehen schauten.

Ich habe davon vor vielen Jahren erfahren und im Podcast das Beispiel etwas verändert erzählt. Ich sprach von eckigen oder runden Uhren bei der westdeutschen Tagesschau und bei der ostdeutschen Aktuellen Kamera. Ob die Uhren eckig oder rund waren, oder die Indizes Striche oder Punkte waren, spielt überhaupt keine Rolle.

Wichtig ist lediglich der Unterschied, der in den sechziger/siebziger Jahren verraten hat, ob jemand West- oder Ost-Fernsehen schaute. Ob der Lehrer dann die Eltern an die Stasi verpfiffen hat, spielt auch keine Rolle. Bei den betroffenen Schüler:innen und Eltern löst das die titelgebende "Schere im Kopf" aus. Die Schüler wurden darauf getrimmt, "Punkte" als nicht verratende Antwort zu geben. Dieses Verhalten nennt man Selbstzensur, bei der Meinungen, Verhaltensweisen, Überzeugungen zurückgehalten werden, um keine gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Nachteile zu erfahren.

Wenn ihr überlegt, findet ihr vielleicht bei euch selbst Beispiele für diese Schere im Kopf. Im Alltag sind es oft gesellschaftliche Konventionen, die euch zu einer bestimmten Handlungsweise zwingen. Obwohl euer Körper es möchte, pisst ihr nicht in die Büsche, sondern geht zur nächsten Toilette. Da der Mensch ein Gruppentier ist, unterwirft er sich gerne einer gesellschaftlichen und rechtlichen Ordnung, weil diese Vorteile für ihn bedeuten.

"Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt." Immanuel Kant (Falschzitat)

korrekt ist:

"Die Freiheit besteht darin, dass man alles das tun kann, was einem anderen nicht schadet" Artikel 4 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789

Um den Bogen zu Freier Software und Freier Gesellschaft zu schlagen, nenne ich Kopfscheren aus diesem Bereich. In meinem Job als IT-Projektleiter bin ich jeden Tag mit dem IT-Mainstream konfrontiert:

  • Anwender:innen wollen die bequemste Lösung haben: Windows365
  • Sie wollen Zoom und WhatsApp verwenden
  • Viele verlangen ein Adobe Creative Cloud Abo, um ein Bild drehen zu können

Selbst bei meinen Kollegen in der IT stosse ich mit meinem FLOSS-Aktivismus häufig an Grenzen des Verständnisses.

"Schaut her, da kommt er wieder, der Ralf, der Dorfdepp, der Weltverbesserer, dieser Gutmensch, der Büro-Idiot. Will uns wieder etwas von dieser Anarcho-GPL erzählen. Huldigt einem zehennagelfressenden Guru; Stallmann, oder wie der heisst. Erzählt uns von den vier Freiheiten, dabei wollen wir nur funktionierende Systeme und Bequemlichkeit. Wir opfern lieber den Mammon auf dem Altar der Marktführer." (stark übertrieben)

Dann schlägt die Schere im Kopf zu: Warum mache ich das? Möchte ich gegen Windmühlen kämpfen? Oder halte ich lieber meinen Mund? Ich passe meine Empfehlungen und Aussagen mehr und mehr an das Etablierte, bzw. Gewünschte an; das ist die Schere.

Wie zieht man die Schere aus dem Kopf?

Kurze Antwort: gar nicht. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, welches auf Effizienz getrimmt ist. Der Weg des geringsten Widerstands ist oft der beste Weg. Rationale Menschen machen eine Vollkostenrechnung: Wenn A, dann nicht B, aber C und D. Als Kind oder Schülerin in der DDR hatte man diese Wahl nicht. Es gibt Voraussetzung, um eine informierte Entscheidung treffen zu können:

  • Man muss sich der Schere bewusst sein, was bei den meisten Menschen nicht der Fall ist.
  • Die Fähigkeit der Selbstreflexion ist notwendig, was bei den meisten Menschen nicht der Fall ist.
  • Es gilt, die Konsequenzen abzuwägen (Vollkostenrechnung).
  • Die Schmerzen müssen gross genug sein, um eine Entscheidung durchzuziehen.

Bei mehr als 100'000 Russen und Russinnen ist das seit Monaten der Fall, die ihr Land in Richtung Georgien verlassen. Schaut man sich die Profile dieser Menschen an, so sieht man überwiegend junge und gut gebildete Leute, bzw. Fachkräfte und die Intelligenzija, die Russland den Rücken kehren. Die oben genannten Punkte treffen auf diese Gruppe zu.

Die Schere im Kopf lässt sich nur bekämpfen, wenn sie an mehreren Stellen schneidet: gesellschaftlich, politisch, wirtschaftlich, persönlich. Selbstverständlich gibt es (emotionale) Leute, bei denen ein Schnitt genügt, um in den Sack zu hauen; das ist aber eher die Ausnahme:

Ihr wollt nicht verstehen, welche Vorteile euch Freie Software in der Firma bringt? Fuck you, ich kündige meinen Job!

Ich rate von solchen Kurzschlusshandlungen ab. Man zieht die Schere aus dem Kopf, falls die Gesamtrechnung stimmt. Du willst nicht unglücklicher enden, als du begonnen hast.

Tags

Schere, Kopf, Selbstzensur, DDR

DxU
Geschrieben von DxU am 9. September 2022 um 19:23

Da bin ich ja echt berührt, dass ich der Auslöser für diesen Artikel gewesen sein soll. Aber dann gebe ich hier auch noch meinen Senf dazu.

Die Schere bei der Auswahl der Bilder oben ersticht den aufmerksamen Betrachter ja fast. Punkte oder Striche? Zum einen sind die Uhren nicht ganz aus der gleichen Epoche (zeitliche Überschneidung aber möglich) Und was das behauptete Zitat total lächerlich macht: "Punkte oder Striche", die AK-Uhr hat beides, wie zu sehen. Es kommt noch besser, zeitweise waren sogar dort Punkte und Striche vertauscht, also mal hatten die viertel Stunden Punkte, dazwischen Striche, mal umgekehrt. Oder Sie hatte nur das eine oder das andere. Eine einfach Bildersuche bestätigt das auch. Irgendwann gar eine digitale numerische Uhranzeige, Hach ja hätten wir doch damals schon das Internet gehabt. Und auch die Tagesschau hatte mal Punkte (eher in den 80ern) und wie im Bild Striche.

"Aber es geht ja um die Schere im Kopf" Wenn diese und andere Anekdoten immer und immer wieder erzählt werden, glauben Leute sowas irgendwann, auch Zeitzeugen meinen sich dann irgendwann daran zu erinnern, entweder weil es gut in Ihr Geschichtsbild passt oder sie sich irgendwann einreden, dass es wohl so gewesen war, wenn es so viele erzählen. "Es könnte so gewesen sein." Die Schere hat den Schnitt vollführt.

Wenn es die Story denn je gegeben haben sollte, dann passt die vielleicht in die Zeit als die Karl-Marx-Allee in Berlin noch Stalin-Allee hiess. Tja da gabs aber noch keine wie im Screenshot zu vermuten, Farbfernseher und so viele Leute hatten da auch noch keinen Fernseher. Die Befragung durch Lehrer hätte dann wohl nicht viel gebracht.

Noch eins, glaubt ihr wirklich hinter jedem Lehrer stand ein Stasi-Typ und die Lehrkräfte mussten alle antanzen und berichten, welche Schüler Westfernsehen gucken? Sicher gabs auch da Zuträger, aber das lief wohl nicht so offensichtlich.

Merkste selber wa?

Mal abgesehn, dass es nicht verboten war (bis auf bestimmte Berufsgruppen, aber selbst da hat es irgendwann keinen mehr interessiert) Westfernsehen zu gucken. Es war nicht erwünscht, in den 60ern und 50ern sehr deutlich (als die FDJ'ler noch Antennen abrissen, die in die "falsche" Richtung zeigten). Danach immer weniger. Die DDR wollte international anerkannt werden, da hat das irgendwann nicht mehr gepasst.

In den 70ern haben wir uns auf dem Schulhof über das Abendprogramm laut unterhalten. Lehrer haben dann vielleicht peinlich berührt weg gehört, in den 80ern nicht mal mehr das. Von "Dallas" hab ich überhaupt erst da erfahren. Mensch war mir dass peinlich, als ich mich erwischt habe, sowas zu gucken (auch ne Art Schere im Kopf) Irgendwann haben bei uns an der Schule manche Lehrer das Westfernsehen gar thematisiert, wenn auch eher vorsichtig.

In den 70ern durfte ich im Sport Unterricht keine Adidas Hose tragen. Ab Sommer 1980 konnte man auch das nicht mehr untersagen (Kenner wissen warum) ohne sich lächerlich zu machen.

Auch hat im Osten kaum einer "Telespargel" zum Berliner Fernsehturm gesagt und ich könnte noch etliche Storys erzählen, wie die von den NVA-Panzern und -Soldaten im Sommer 68 auf Prager Straßen.

Aber ich glaube da schreibe ich mal einen eigenen Artikel in meinem Blog. reicht erst mal wa?

bis denne, euer DxU

Fabian Schaar
Geschrieben von Fabian Schaar am 9. September 2022 um 21:51

Ich habe deinen Text jetzt auch gelesen und finde den, ohne auf die politischen Diskussion einzugehen, sehr gut. Ich würde aber noch was ergänzen: Wenn man sich die Schere einmal rausgezogen hat, braucht es mMn auch einen Platz, wo man sie hinlegen kann, so dass man sie sich später nicht (aus Bequemlichkeit) wieder reinsteckt; das Beispiel mit deinen Kollegen trifft es schon ganz gut; ich werde schon belächelt, wenn ich alle Cookies konsequent ablehne, und das schneller als ich Gnu sagen kann. Aber ich denke, dass schon der krasse Gegensatz zwischen der Community (z.B. hier) und dem sog. IT-Mainstream zeigt, dass wir viel gewonnen haben, schon dass es freie Alternativen gibt, zeigt, dass die Community von solchen Pöbeleien nichtmal angekratzt werden kann. Auch wenn es albern klingt: Ich vermute, dass sich mit der Zeit doch mehr Leute auf freie Software besinnen, wenn man sie nur mit den richtigen Argumenten "ködert" -- und das möglichst hartnäckig. Bei manchen zieht das Argument mehr, bei anderen das andere; allerdings gibt es meiner Ansicht nach einen Punkt, an dem bei so gut wie jedem früher oder später ein Licht aufgehen sollte: Nämlich genau dann, wenn es um Gesellschaft geht -- daraus kann sich nun auch der größte M$-Fanboy nicht entziehen. Deswegen halte ich es auch für fatal, freie Software auf das technokratische "open source" herunterzubrechen. Die Technik ist eine wichtige Teilmenge und vielleicht auch ein guter Einstiegspunkt für manche Leute, aber als Community braucht es doch auch immer einen tieferen Sinn, warum es überhaupt eine Gemeinschaft gibt und nicht nur eine Entwicklergruppe. Der unmittelbar zurückliegende Talk-Chatverlauf (9.9.22, 21:50 Uhr) fasst es doch eigentlich gut zusammen: Einerseits werden Liohs Argumente kleingeredet (M$-Fanboys zum Libreboot-Artikel), andererseits wird Ralf belächelt und schlussendlich verpassen so viele die eigentlich dahinterstehende politische Diskussion, egal ob M$ oder "open source" statt freie Software. Aber gut, unterm Strich ist es eben wichtig, eine Gemeinschaft zu haben, die gemeinsam für Ideale eintritt und nicht nur, aber natürlich auch, für ein offenes Git-Repo. Bis manche das erkennen, dauert es vielleicht, aber die Gemeinschaft besteht nun auch schon seit den 80ern -- da machen die paar Jahre warten bis zum "Jahr des GNU/Linux-Desktops" auch nichts mehr aus. ;)

einfach-ich
Geschrieben von einfach-ich am 10. September 2022 um 13:30

Ich möchte doch was zu den "Punkten und Strichen" sagen: Dies war schon relevant. Der fragende Lehrer wußte genau wie die Uhren zum jeweiligen Zeitpunkt aussahen. Es war also durchaus eine sinnvolle Frage um zu "schnüffeln". Da ich 68 in der DDR geboren und aufgewachsen bin, bestätige ich dies - allerdings war solch ein Vorgehen kein Standard. Danke für den Artikel :)

Torsten
Geschrieben von Torsten am 10. September 2022 um 11:50

Ich glaube RMS hat Hornhaut verspeist. Ich finde er sollte deshalb nicht schlechtgeredet werden. https://www.youtube.com/watch?v=Rhj8sh1uiDY

john-soda
Geschrieben von john-soda am 11. September 2022 um 19:46

Zum ersten mal eine Meinungsartikel auf GNU Linux dem ich nicht wiedersprechen möchte. Selbstzensur ist nicht gut. Konformität auch nicht. Alles abzulehnen hilft auch nicht weiter. AnrchoGPL und Mammon beim Altar der Marktführer waren dann noch das absolut positive Tüpfelchen auf dem i !!! Schönen Sonntag noch

👓
Geschrieben von 👓 am 15. September 2022 um 00:47

Beim Argumentieren muss man immer seine aantwort auf das Gegenüber anpassen. Beim einen spreche ich von den vier afreiheiten, beim anderen davon, dass wir nur für die Dienstleistung zahlen und auf jeden Fall Zugang zu den Produkten haben. Ich käme da nie auf die ide mit OSS zu argumentieren. Ich frage auch wass die Eingangsdaten sind und was rauskommen muss und für den zweck gebe ich eine Empfehlung ab.

Mein Gröstes Problem. Ich möchte nie Software ohne Wartung empfehlen. Aber wen nehme ich als Vertragspartner für Gimp auf Windows? Es müsste jemand sein, der auf seiner Homepage das Produkt auch aufführt, damit ich den Link empfehlen kann.