Zum Wochenende: Wenn Technik dich erziehen will

  Lioh Möller   Lesezeit: 4 Minuten  🗪 11 Kommentare Auf Mastodon ansehen

Technik versucht uns zunehmend durch sogenanntes Nudging zu erziehen. Dies lässt sich oftmals nicht abschalten. Werden wir bevormundet? Oder hilft es uns, bessere Menschen zu werden?

zum wochenende: wenn technik dich erziehen will

Ich kann mich nicht an den Moment erinnern, an dem ich jemandem einen Vogel gezeigt habe. Bei der aktuellen Technik, die mich umgibt, könnte ich jedoch des Öfteren Mal 'Bei dir piepst's wohl' schreien. Das erste Produkt, das ich gutgläubig erworben habe und das mir nachhaltig die Nerven geraubt hat, war ein Wäschetrockner von Miele. Eigentlich unauffällig, mit wenigen Funktionen warnte das Gerät nach Ablauf des Trockenvorgans ohne zeitliche Begrenzung mit einem derart penetranten Piepen, dass es doch geleert werden möchte. Dies führte sogar so weit, dass die Nachbarn das Gepiepse wahrgenommen haben, wenn ich mal unbedacht aus dem Haus gegangen bin, als der Trockner noch lief.

Bei neueren Modellen ist es mittlerweile einer findigen Hackerin gelungen, über ein verstecktes Wartungsmenü die Funktion zu deaktivieren.

Ähnliches habe ich wiederum bei meinem Kühlschrank erlebt, der zwar nicht piept, aber dessen Lampe anfängt zu blinken, sofern die Kühlschranktür nicht geschlossen wird, und zwar in einer stetig ansteigenden Blinkfrequenz.

Der in der Verhaltenspsychologie als Nudging bezeichnete Vorgang dürfte auch Autofahrer_innen bekannt sein. Sei es, wenn der Sicherheitsgurt nicht angeschnallt ist oder die Beleuchtung beim Verlassen des Fahrzeugs noch aktiv ist. Letzteres wurde zwischenzeitlich angepasst, und das Licht schaltet bei fast allen neueren Modellen einfach ab, sofern das Fahrzeug steht und verlassen wird. Möglicherweise resultiert dies aus den geringeren Produktionskosten für die entsprechenden Sensoren.

Besonders ärgerlich war es, als ich in den USA ein neueres Mietfahrzeug genutzt habe, welches vollgepackt war mit solch einer Technik in unterschiedlichster Ausprägung. Diese Nudging-Sensoren funktionierten 'klaglos', jedoch nicht die Displayabdunkelung für das integrierte Navigationssystem. Schon bei leichter Bewölkung schaltete das Display in den Nachtmodus und war de facto nicht mehr lesbar, was die Fahrt in einer unbekannten Umgebung deutlich erschwert hat. In solchen Fällen kommt dann bei mir die trotzige Teenager_in durch, denn ich lasse mir auch heute noch ungern etwas vorschreiben, wenn die Person, die sich eine Verhaltensanpassung wünscht, sich selbst offensichtlich falsch und sogar potenziell gefährdend verhält. Wobei hier die 'Person' natürlich nur ein Mikrocontroller war.

Die so in mir ausgelöste Trotzreaktion würde früher dazu führen, dass ich in den 'Jetzt erst recht nicht' Modus geschaltet hätte, doch anschnallen möchte ich mich natürlich schon.

Beim Kauf eines Elektrogerätes erwirbt man so heutzutage fast immer noch einen aggressiven 'Elternteil' dazu, obwohl kein Erziehungswunsch und erst recht kein Bedarf besteht. Manchmal frage ich mich, wie es wäre, wenn man die Entwickler dieser Technik dazu anregt, ihre eigenen Produkte selbst über einen längeren Zeitraum zu nutzen. Ich gehe allerdings davon aus, dass es für fast alle Geräte eine versteckte Funktion zur Deaktivierung des Nudgings gibt, die, sofern bekannt, sofort genutzt wird.

Ähnlich wie bei Computerbetriebssystemen sollte daher die Software der eingesetzten Mikrocontroller offengelegt werden und es sollte für Nutzer:innen einfach möglich sein, Anpassungen durchzuführen. Aus gesellschaftlicher Sicht müssen wir uns fragen, ob wir diese Form der Erziehung überhaupt möchten. Ein Ausweg wäre, diese zumindest optional zu gestalten oder über verschiedene Stufen (komplett aus bis supernervig) steuern zu können.

Vielleicht fällt es mir auch nur so deutlich auf, da Linux in diesem Fall genau das Gegenteil darstellt. Anstatt zu nerven, muss man sich Hilfe holen, wenn man nicht weiterkommt oder zumindest das Manual lesen.

Wie geht es dir mit dieser Technologie? Empfindest du sie als hilfreich oder fühlst du dich bevormundet? Und wie siehst du die aktuelle Entwicklung, in der uns die KI zunehmend unseren Lebenswandel vorschreibt, äh empfiehlt?

Bild von ambermcauley auf Pixabay

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Nudge, Nudging

Stefan Draxlbauer
Geschrieben von Stefan Draxlbauer am 6. Dezember 2024 um 18:27

Deine Erzählung erinnert mich an diesen Kühlschrank, der seine Nutzer auf dem Smartphone anpingt, wenn die Tür offen stehen gelassen wird. Finde nur den Artikel gerade nicht mehr. Wenn das Teil so intelligent ist, warum macht es dann nicht einfach die Tür zu?!

Bei der Offenheit der Geräte schließe ich mich an. Siehe auch Ada und Zangemann. Ich bin für ein Gesetz dafür, sowie für ein Gesetz, dass Entwickler und Hersteller ihre Produkte zwangsweise für eine Zeit selbst nutzen müssen. Das würde viele Probleme schnell beheben...

Christian Becker
Geschrieben von Christian Becker am 8. Dezember 2024 um 09:27

Das ist ein bisschen (wenn auch weniger menschenverachtend, da es nur um einen Gegenstand geht), wenn man ein schreiendes Baby fragt, warum es sich nicht selbst neu wickelt. Ein Kühlschrank hat üblicherweise keine motorisierte Tür, so dass es bei einer Warnung (Babygeschrei) bleiben muss. Man könnte jedoch sicherlich mit einem Arduino/ Raspberry etc. ein Servo ansteuern, dass die Türe schließt, wenn eine entsprechende Meldung des Kühlschranks kommt.

Ralf Hersel Admin
Geschrieben von Ralf Hersel am 6. Dezember 2024 um 18:41

Wenn wir ein Auto leihen, fährt meine Frau und ich kümmere mich um die Navigation und die Bedienung des Bordcomputers. Nach spätestens zehn Metern ruft meine Frau: "Schalte alles ab, was piept und in mein Fahren eingreift." Es gibt jedoch gesetzliche Regelungen, die ein dauerhaftes Abschalten von Assistenzsystemen verhindern. Spätestens beim nächsten Reboot (Wie heisst das beim Auto? Ach ja, Anlasser) sind die vorgeschriebenen Systeme wieder aktiv, piepen und greifen dir ins Lenkrad.

Christian Becker
Geschrieben von Christian Becker am 8. Dezember 2024 um 09:36

Ja, das geht mir bei Autos auch auf den Keks. Gegen manche der Systeme hätte ich ja nichts, wenn sie funktionieren würden. Aber auf meiner Strecke zur Arbeit z.B. gibt es mindestens 2 Stellen, an denen die automatische Verkehrszeichenerkennung zuverlässig falsch liegt. Zum Glück ist bei diesem Fahrzeug noch nicht umgesetzt, dass eine Überschreitung der Geschwindigkeit auch akustisch angezeigt werden muss. Also kann ich beruhigt 50 fahren, wo mein "Assistent" 30 fabuliert und 60, wo angeblich 50 ist und 70, wo ich angeblichen 100 ins Unglück fahren würde. Auch die automatische Scheibenwischersteuerung ist... begrenzt intelligent. Bei nasser Scheibe dauert es schon mal recht lange, bis der Automat automatisiert, wohingegen manchmal ein Spritzer von einem noch nassen Baum ausreicht, um bei eigentlich trockener Scheibe den Wischer angehen zu lassen.

Funktionierende Systeme finde ich dagegen eigentlich gut. Wenn mein Kühlschrank sich meldet, wenn die Tür nicht ganz zu ist (oder wieder augesprungen ist), kann ich Energie sparen und Lebensmittel vor dem Vergammeln retten. Wenn ich ohne Gurt losfahre und ich angepiept werde, finde ich es auch in Ordnung (das funktioniert viel besser als Scheibenwischerautomatik oder Verkehrszeichenerkennung). Ich finde, da gibt es auch einen deutlichen Unterschied zwischen "nudging" und echter Warnung.

Ruhrpott-Mann
Geschrieben von Ruhrpott-Mann am 7. Dezember 2024 um 10:10
David
Geschrieben von David am 7. Dezember 2024 um 11:39

Das Titelbild läßt mich an das Instinktverhalten von Gänsen (Prägung) denken, ob da von Lioh ein versteckter Bezug zum nudging gesetzt werden sollte? Gelegentlich sieht man ja leere Autos, wegen einer Fehlfunktion wild blinkend und kombiniert Innenbeleuchtung sich periodisch ein- und ausschaltend auf einem Parkplatz. Vermutlich freut sich der Besitzer am nächsten Tag über eine leere Batterie und noch mehr über das "Nichtbooten" (danke @Ralf) des Fahrzeugs. Möglicherweise sind die Hersteller, wegen des zu leistenden Supports für ausgelutschte Batterien, darauf gekommen im Normalfall die Innenbeleuchtung doch nach einer Weile auszuschalten. Mit mehr Technik lassen sich Autos dann sicher auch bricken, also Angriffe auf die kritische Infrastruktur sind möglich ...ich schweife ab.

Robert
Geschrieben von Robert am 7. Dezember 2024 um 11:50

IMHO sollte man zwischen verschiedenen Dingen unterscheiden:

Featuritis = Funktionsüberladene Apps. Häufig gibt es viel zu viele, zum Teil sogar unnötige und einfach überflüssige Funktionen, Einstellungen oder Menüs. Ein gutes Besipiel sind Smart-TVs, die alles andere als "Smart" sind, wo jeder Hersteller ein anderes Bedienkonzept einbaut und viele Benutzer schon mit der Sortierung von Sendern überfordert sind.

UI & UX (User Interface & Experience) Die angebotene Benutzerschnittstelle und deren praktische Bedienungs- bzw. Benutzerrerfahrung. Ein schlecht gemachtes UI kann ein ansonsten vollkommen tadelloses Produkt zerstören oder unbenutzbar machen. Ein gutes UI kann Featuritis komplett vor dem Benutzer verstecken, Funktionen sinnvoll zur Verfügung stellen oder zumindest allgemein die Anwender-Verwirrung verringern und die Bedienung stark verbessern.

Ursachen & Gründe: Je nachdem, von wem ein Produkt oder Service getrieben und gesteuert wird, kommt es dann ab und an zu den bekannten Auswüchsen beim Nudging in der einen oder der anderen Richtung. Manchmal will es der Chef oder die Marketing-Abteilung unbedingt genau so haben, woanders werden nur noch irgendwelche Checklisten abgearbeitet und die Testabteilung wegrationalisiert oder Entwickler drehen völlig frei. Die Ursachen sind da recht vielfältig.

Artverwand aber um ein vielfaches schlimmer und gefährlicher als reines Nudging sind DARK PATTERN https://de.wikipedia.org/wiki/Dark_Pattern Da werden psychologische Tricks aus der Verhaltensforschung, optische Täuschungen und PROAKTIV das Design, die Menüs & Einstellungsoptionen zum Nachteil des Konsumenten angewendet.

https://darkpatternstipline.org/

https://www.deceptive.design/

Klaus
Geschrieben von Klaus am 7. Dezember 2024 um 13:27

Diese Assistenzsysteme haben in Flugzeugen schon Menschen getötet, weil die Besatzung nicht wusste, dass es sie gibt, dass sie aktiviert sind und wie sie eingreifen bzw. wo ihre Grenzen liegen. Andererseits schützen Assistenzsysteme auch Menschen. Wäre halt nur schön, wenn man uns nicht bevormunden würde und die Möglichkeiten böte auszuwählen was man wohl oder nicht braucht bzw. haben will.

KERNIC
Geschrieben von KERNIC am 9. Dezember 2024 um 06:16

Deinem Beispiel mit dem Kühlschrank muss ich widersprechen. Bei meinen Eltern gibt es ein Piepen (das man glaube ich deaktivieren kann, wenn es mal angefangen hat), bei meinem Kühlschrank nicht. Ich habe leider zwei Kühlschrank-Inhalte verloren, bis ich das defekte Türscharnier bemerkt habe. Da wäre ich über ein Piepen echt froh gewesen.

Aber optinal, da hast du recht. Unsere Miele Waschmaschine piept auch ein paar Mal, wenn sie fertig ist. Sie steht drei Stockwerke tiefer im Waschkeller... Dafür ist mein 13 Jahre altes Auto noch so dumm, dass ich jedes Mal panisch erschrecke, wenn es piept - normalerweise meldet es sich nur bei Frost oder Defekt. Alles andere ist, wenn möglich, lautlos. Selbst mein Smartphone ist quasi immer auf stumm. Mich nervt das ganze um Aufmerksamkeit buhlen.

stefan
Geschrieben von stefan am 10. Dezember 2024 um 10:04

Das gab es doch gerade als Technik Trend 2024 beim Big Brother-Award „Technikpaternalismus“ hier die Laudatio von Rena Tangens https://bigbrotherawards.de/2024/technikpaternalismus

Micha
Geschrieben von Micha am 13. Januar 2025 um 19:22

Danke für das Beispiel Kühlschrank. Die Frage ist warum blinkt bzw. piepst der Kühlschrank eigentlich bei offener Tür? Klar, damit die Tür geschlossen wird um dadurch Energie zu sparen. Und da fängt es an. Damit die Energieeffizienz gesteigert wird unterstellt man dem Benutzer, dass dieser ständig die Tür offen stehen lässt! Diese Unterstellung und das Piepsen lässt den Pfeil auf der bunten EnergieeffizienzTreppe nach oben hüpfen. 🤦‍♂️