Zum Wochenende: Der schwierige Aufbruch ins Fediverse

  Ralf Hersel   Lesezeit: 7 Minuten  🗪 2 Kommentare

Die grosse Freiheit stellt manche vor unerwartete Hürden. Das Fediverse ist noch keine Commodity.

zum wochenende: der schwierige aufbruch ins fediverse

Das Fediverse ist ein Zusammenschluss von freien und dezentralen Social Media Diensten, die über das ActivityPub-Protokoll miteinander kommunizieren. Diese Dienste lassen sich in Bereiche gliedern: Microblogging, Macroblogging, Audio/Video-Sharing, Image-Sharing und News-Aggregation. Die bekannte grafische Darstellung findet ihr hier. Fehlt euch bei dieser Aufzählung etwas? Messaging fehl! Wo ist Matrix? Matrix ist ein eigenes Protokoll und zählt nicht zum Fediverse. Da stellt sich die Frage, warum es keinen Messeneger-Dienst im Fediverse gibt. Doch das ist ein anderes Theme.

In diesem Artikel geht es um die Einstiegshürden, sowohl ins Fediverse, als auch in Matrix. Vor zwei Jahren standen wir vor der Aufgabe, unsere Familien und Freunde von WhatsApp auf Signal, Telegram, Threema umzuziehen. Manchen ist das gelungen, anderen nicht oder nur teilweise. Bei mir war es so, dass ich alle aus meinem persönlichen Umfeld dazu bewegen konnte, Telegram oder Threema als weitere Messenger zu installieren. Die meisten haben WhatsApp (heimlich :) weiter verwendet. Nun stehen wir vor der nächsten Herausforderung: der Umzug zu Matrix und ins Fediversum.

Als bekanntes Beispiel für föderierte Dienste wird oft E-Mail angeführt. Das ist richtig, weil man bei E-Mails sowohl den Anbieter als auch den Client auswählen kann. Es gibt hunderte E-Mail-Anbieter und genauso viele E-Mail-Anwendungen. Man hat die Wahl und bewegt sich auf den standardisierten Protokollen SMTP, IMAP und POP3. In den letzten Jahren hat sich diese Allgemeingültigkeit jedoch in Richtung der grossen Tech-Konzerne verschoben. Für viele Anwender:innen bedeutet E-Mail nur noch Gmail oder Microsoft Outlook.

Diese Monopolisierung hat fatale Konsequenzen. Seit einigen Monaten sind die Microsoft E-Mail Server nicht mehr über die Standard-Protokolle erreichbar, was dazu führt, dass man mit dem freien Client Thunderbird nicht ohne kostenpflichtige Add-ons (Owl oder ExQuilla) auf die MS-365 E-Mails zugreifen kann. Microsoft betreibt hier eine konsequente Abschottungspolitik, indem die seit Jahrzehnten gültigen Protokoll negiert werden. Ob man auf Gmail-Konten von beliebigen E-Mail-Clients zugreifen kann, mag ich nicht beurteilen, weil ich Google wie der Teufel das Weihwasser meide.

Eine Auswirkung dieser Monopolisierung durch die Abkehr von Standards, macht es den freien und föderierten Diensten nicht einfach. Normale Konsumenten wollen nicht nachdenken, sondern möglichst bequem konsumieren. Hierbei kommt ein weiterer Faktor ins Spiel: die "Appisierung", also das Verpacken von Standards in eigene Apps oder Anwendungen, um der Anwender:in eine Exklusivität vorzugaukeln, die tatsächlich nicht existiert. Ein gutes Beispiel dafür sind E-Mail-Apps für Smartphones von fast allen Providern.

Schlecht informierte Anwender:innen wissen nicht, dass sie mit einem generischen E-Mail-Programm auf ihre E-Mail-Konten zugreifen können, ohne auf die Einzel-App von GMX oder Gmail angewiesen zu sein. Die Tendenz, goldene Käfige zu bauen und einer der grössten Errungenschaften der Neuzeit - Standards - abzubauen, sehen wir seit Jahrzehnten. Ich erinnere mich noch gut daran, wie man in den 80er-Jahren ein beliebiges Autoradio in den Standard-Slot einschieben konnte.

Die Argumente gegen Standardisierung heissen: Fortschritt, Kundenwünsche, Personalisierung, Komfort und Werbung nur für dich. Der Erfolg dieser Argumente ist beeindruckend und - vermutlich - kaum mehr umkehrbar. Wer will sich der Qual der Wahl aussetzen, wenn der goldene Käfig so einfach und verlockend ist? Entscheide dich für unser Ökosystem, und wir lesen alle Wünsche von deinen Lippen ab.

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Und genau diese Qual der Wahl ist im Fediverse und bei Matrix absolut notwendig, falls man seine Souveränität aufrechterhalten möchte. Wenn ihr durch die Stadt flaniert und Lust auf einen Kaffee habt, such ihr euch ein nettes Café aus (ausser ihr geht zu Starbucks); wenn ihr euer Auto auftankt, fahrt ihr zu irgendeiner Tankstelle, weil sowohl die Tankstelle, als auch das Café eure Wahl ist und Standards abliefert. Gerade das Café-Beispiel könnte euch nicht überzeugen, weil es dort nicht um Standards, sondern um den besonderen Kaffee geht.

Das Fediverse lebt von Standards und Vielfalt. Da gibt es nicht den einen Dienst oder die eine App, die von allen verwendet wird. Für viele stellt das eine hohe Einstiegshürde dar, muss man doch eine informierte Entscheidung treffen, die einem nicht vom zentralistischen Monopolisten abgenommen wird. Wer zu bequem ist, um beim Eintritt ins Fediverse ein paar Abwägungen zu treffen, hat wohl nichts Besseres als den golden Käfig verdient. Alle anderen sind herzlich willkommen in der nächsten Generation von Social Media.

Quellen:

Tags

Fediverse, Matrix, Leute, Zugang, Zugangsbeschränkung, Gewohnheiten

kamome
Geschrieben von kamome am 25. November 2022 um 21:24

Ich meine, einjedes hat etwas Besseres (Föderiertes) verdient – und selbst wir benötigen doch sogar mehr Föderierte (auch unter denen, die sich nicht die Mühe machen wollen). Denn wenn nur ein paar wenige föderiert arbeiten, wird es uns nicht weit bringen.

👓
Geschrieben von 👓 am 13. Dezember 2022 um 20:49

Ich würde mich freuen, wenn ActivtyPub mit Matrix verheiratet würde.