Zum Wochenende: Moderation neu denken

  Ralf Hersel   Lesezeit: 5 Minuten  🗪 3 Kommentare

Wie gehen wir mit der Moderation in den stetig wachsenden neuen Sozialen Medien um?

zum wochenende: moderation neu denken

In unserer aktuellen Podcast-Folge GLN029, die am 1. Dezember erscheinen ist, sprechen wir über das Fediversum. Darin geht es unter anderem darum, ob das Fediverse ein Dorf oder bereits eine Stadt ist. Ich bleibe bei meiner Meinung, dass es sich bisher noch um viele kleine gallische Dörfer handelt, die einer gewissen Romantik und Wohlfühlkultur nicht entbehren. Wenn man den momentanen Trend hochrechnet, wird Lioh Recht bekommen. Die Instanzen entwickeln sich von Dörfern zu Städten zu Metropolen.

Wie lange bleibt es noch gemütlich in unseren sozialen Dörfern?

Neben der Frage nach der technischen Skalierung, sollte uns die Moderationsfähigkeit zu denken geben. Jede und jeder, der einmal ein Forum betreut hat, kennt diese Herausforderung. Solange sich die Anzahl der Teilnehmenden im Hunderter- oder auch im Tausenderbereich bewegt, ist die Moderation durch eine handvoll Moderatoren zu bewältigen. Aber was geschieht, wenn die Community wächst?

Zuerst stellt sich die Frage, ob man überhaupt Moderation in Social Media braucht. Falls man das bejaht, was nicht selbstverständlich ist, sollte man ermitteln, wie viele Moderatoren im Verhältnis zu den Teilnehmenden benötigt werden.

Die erste Frage lässt sich leicht beantworten. In einer sozialen Gemeinschaft, egal ob im wirklichen Leben oder in Social Media Gruppen, gibt es Regeln. Die meisten Fediverse-Instanzen haben Regeln aufgestellt, an die sich die Teilnehmenden zu halten haben:

An einer roten Ampel bleibt man stehen.

Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt.

Du darfst nicht töten.

Damit Regeln eingehalten werden, braucht man Moderatorinnen und Moderatoren. Normalerweise werden diese explizit bestimmt und benannt. Wer der Meinung ist, dass keine Moderation nötig ist, wird sich als Betreiber von Gruppen eher früher als später mit anarchischen Verhältnissen beschäftigen und die Verantwortung dafür tragen müssen. Da anonyme Menschen (und Bots) sich ganz schnell wie wilde Tiere verhalten, stösst man als Betreiber:in schnell an die Grenzen von Gesetzen. Daher lässt sich die erste Frage mit einem klaren Ja beantworten.

Die Antwort auf die zweite Frage lässt sich empirisch ermitteln. Die zu moderierende GNU/Linux.ch-Community in den Gruppen TALK und HELP auf Matrix umfasst 847 Personen. Um die Moderation kümmern sich fünf Personen. Hochgerechnet ergibt das einen Anteil von 0.5 Prozent Moderatoren im Verhältnis zur Anzahl der Teilnehmenden. Nehmen wir eines der alten Social Media Networks, z. B. Twitter. Bei 400 Millionen Usern würde die Anzahl der Moderatoren, gemäss oben genannter Formel, 2 Millionen betragen. Angenommen, man könnte die Moderation durch KI um den Faktor 10 erleichtern, landet man immer noch bei 200'000 Moderatoren.

Ihr seht es; Moderation skaliert nicht.

Wie man das löst, lässt sich mit einem Blick auf die Zivilgesellschaft klären. Das Zusammenspiel von Menschen ist im echten Leben seit Jahrtausenden erprobt und verbessert worden und findet seinen Niederschlag im föderal organisierten Gemeinwesen vieler Staaten und Gemeinden. Stellt euch vor, ihr würdet in Deutschland, Österreich oder der Schweiz leben und es gäbe nur eine Verwaltungseinheit oder nur ein Gericht oder nur einen Polizeiposten im ganzen Land. Willkommen bei Meta, Twitter, Google oder Microsoft.

Die Lösung liegt in der Kleinteiligkeit und der Verteilung von Kompetenzen. Wenn euch der Nachbar eine Scheibe einwirft, geht ihr damit nicht zum Bundesgericht, sondern fragt bei eurer Gemeindeverwaltung nach, was man da machen kann. Wenn ihr im Zug sitzt und eine Frau mit ihrer Freundin lautstark am Handy über ihre privaten Probleme berichtet und das ganze Abteil daran teilhaben lässt, weist ihr die Frau darauf hin, dass sie sich bitte etwas zurückhalten möge. Falls jemand am Bahnhof eine andere Person verprügelt, schreitet ihr schlichtend ein, ohne auf die Ordnungskräfte zu warten. Das nennt man Zivilcourage oder gesunden Menschenverstand.

Das Fediverse unterstützt solches Handeln durch seine föderale Architektur. Soziale Medien werden dort auf tausende Instanzen verteilt, um die Moderierbarkeit zu ermöglichen. Je mehr Instanzen es gibt, desto leichter lassen sich die Regeln auf die Bedürfnisse der Teilnehmenden anpassen und desto besser lassen sich diese Regeln durchsetzen.

Der Kern dieses Artikels liegt jedoch in der Trennung zwischen Konsum und Dienstleistung. Ein Grundsatz von GNU/Linux.ch ist es, diese Unterscheidung aufzuheben: Die Community schreibt für die Community! Obwohl wir diese Idee noch immer nicht vollständig umgesetzt haben, halten wir daran fest. Und diese Idee gilt auch für die Wahrung des Wohlgefühls in unseren Chat-Kanälen:

Ihr alle seid Moderatoren!

Die fehlende Skalierung von Moderatoren im Verhältnis zu den Teilnehmenden, kommt ohne Zivilcourage und persönliches Engagement entlang der Regeln nicht aus. Nur wenn Teilnehmende in der neuen Social Media Welt (aka Fediverse) ihre Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen, bleiben die Instanzen harmonische Dörfer. Verabschiedet euch bitte von der ausschliesslichen Konsumentenrolle.

(In den Quellen findet ihr einen Artikel von Netzpolitik.org, dessen erste Absätze mich zu diesem Beitrag inspiriert hat.)

Quellen:

Titelbildnachweis: Von Helfmann - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=36558570

https://netzpolitik.org/2022/kw-47-die-woche-in-der-musk-das-tor-zur-hoelle-aufstiess/

Tags

Social Media, Moderation, Regeln, Verhaltensregeln, Fediverse, Mastodon

Robert
Geschrieben von Robert am 3. Dezember 2022 um 20:14

"Stellt euch vor, ihr würdet in Deutschland, Österreich oder der Schweiz leben und es gäbe nur eine Verwaltungseinheit oder nur ein Gericht oder nur einen Polizeiposten im ganzen Land. Willkommen bei Meta, Twitter, Google oder Microsoft." Finde das ist ein sehr falscher Vergleich: Auch wenn wir nur wenige Polizisten oder Gerichte hätten, ändert das rein gar nichts daran, dass die bestehenden Gesetze trotzdem überall (gleich) gelten. Wenn ich das mit dem Fediverse aber richtig verstanden habe, dann kann dort jeder mit seiner Instanz seine eigenen Regeln (Gesetze) machen. Also auch bestimmen, mit der, dieser oder jener Instanz dort spreche ich nicht mehr - bäh - ähnlich wie im Kindergarten und führt uns zwangsläufig zu noch mehr abgekapselten Bubbles. Wenn jedoch eine Zeitung (eine Instanz) nicht mehr alle Informationen liefert, könnte man das jedoch möglicherweise auch einfach "Zensur" nennen.

BuffaloBill
Geschrieben von BuffaloBill am 5. Dezember 2022 um 08:08

Ich kann hier nur für die Schweiz sprechen, und da gilt das definitiv nicht! Natürlich gibt es nationale Gesetze, aber darunter gibt es auch kantonale Gesetze. Wenn ich das bei der Corona-Epidemie richtig mitbekommen haben, habt ihr durchaus auch länderspezifische Gesetze. Wenn es dann beispielsweise zum Baurecht kommt, ist es Tatsächlich so das jede einzelne Gemeinde ihr eigenes Baurecht hat, die definiert Wo, Wann, Wie Hoch, Wie tief gebaut werden darf.

Das System im Fediverse ist sehr ähnlich. Es gibt zwar keine Vererbung von Bundesrecht bis auf die Gemeinde herunter, trotzdem wirst du feststellen, dass die Regeln eigentlich bei allen Instanzen sehr, sehr ähnlich lauten.

Blubb
Geschrieben von Blubb am 4. Dezember 2022 um 22:13

Eine Instanz kann vieles sein. Eine Instanz kann eine Community sein, die nur ganz bestimmte Inhalte zulässt - zum Beispiel Koch-Fotos. Eine Instanz kann aber auch ein genereller Server sein, auf dem jeder alles posten darf.

Unter dem Hastag #burger findet ein Nutzer jetzt Beiträge von der Koch-Foto-Community, aber auch Beiträge von anderen Instanzen, zum Beispiel eine News über neue gastronomische Hygiene-Vorschriften in Berlin. Oder Street-Food-Videos. Oder, oder, oder.

Wer sich jetzt alle Beiträge zu #burger anguckt, wie soll der aktiv bei der Moderation helfen? Da müsste man ja bei jedem Post erstmal gucken, von welcher Instanz der Post kommt, und dann die Regeln studieren. Genau so natürlich auch die Kommentare unter dem Post.