Mit weit über 60% Marktanteil beherrschen Android-Geräte den Smartphone-Markt schon seit langer Zeit. Die meisten Geräte haben jedoch eins gemeinsam: ein neugieriges Betriebssystem, das gerne viel über den Anwender erfahren möchte.
Die Hallo Welt Systeme UG – ein deutsches Startup aus Remscheid – hat es sich zur Aufgabe gemacht, das zu ändern. Mit dem Volla Phone gibt es seit Ende 2020 ein komplett Google-freies Android-Smartphone. Klingt gut, doch wie gut ist es wirklich?
Google-freie Android-Smartphones sind zwar keine Neuigkeit – speziell ist jedoch der Ansatz, ein solches direkt ohne Bastelarbeiten erwerben zu können. Bisher mussten bestimmte Geräte gekauft und anschliessend mit einem neuen Betriebssystem versehen werden, um in den Genuss von purem Android ohne Google-Spezifika zu gelangen. Zu den bekanntesten Alternativ-Betriebssystemen gehört LineageOS – in Foren wie XDA Developers beschäftigt sich eine grosse Community mit der Entwicklung weiterer sogenannter ROMs. Vielen dieser ROMs fehlen die sogenannten „Gapps“ – also den Google-Diensten wie der Play Store, Gmail oder YouTube. Zwei Android-Betriebssysteme mit klarem Fokus auf Sicherheit und Datenschutz sind CalyxOS und GrapheneOS.
Das grosse Problem bei alternativen ROMs ist jedoch die Smartphone-Kompatibilität. Während LineageOS in der Regel eine breite Masse an Geräten unterstützt, ist das bei kleineren Projekten wie CalyxOS nicht der Fall. Die Google Pixel- und OnePlus-Geräte werden meist gut unterstützt, bei anderen Herstellern ist es sehr wechselhaft.
Ich erinnere mich da an ein Experiment mit einem Xiaomi Mi 9 vor einem Jahr. Angeblich sollte es einfach „gerootet“ werden können, um ein anderes Betriebssystem installieren zu können. Faktisch hat das jedoch nie funktioniert – trotz Anlage eines Kontos im Hersteller-Forum und befolgen der Dokumentation. Das Benutzen der Xiaomi-eigenen Cloud bei aktivierter Internetverbindung für mindestens zwei Tage hätte laut Foreneinträge geholfen – aber das konnte ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren.
Long story short – das Rooten von Android-Geräten wird anscheinend immer schwieriger, somit hatte ich erstmal keine Lust mehr auf weitere Experimente.
Anforderungen
Bisher hatte ich seit einigen Jahren ein Apple iPhone 8 Plus, mit dem ich prinzipiell auch zufrieden war. Seit meinem kompletten Umstieg auf Linux vor einem Jahr gestaltete sich das Synchronisieren von Inhalten (Musik, Podcasts, Dokumente) ohne Cloud-Dienst jedoch als sehr problematisch. Während es anfangs möglich war, diese Daten zu synchronisieren, schwand die Funktion mit dem letzten iOS Major-Update. Seither bleibt nur noch eine Synchronisation via macOS oder Microsoft Windows – beides keine Option für mich.
Mein Benutzungsverhalten ist überschaubau – ich versuche nicht allzu oft am Smartphone zu hängen und spiele auch nicht. Ich komme täglich auf ca. 1 Stunde Bildschirmzeit, die sich wie folgt zusammensetzt:
- Messaging auf meinen Chat-Apps
- E-Mails lesen und schreiben
- Im Internet surfen
Zu anderen gelegentlichen Aufgaben gehören:
- Datenaustausch mit eigener Nextcloud-Instanz
- Passwörter und Zwei-Faktor-Codes pflegen
- Musik und Podcasts hören
- Wettervorhersage überprüfen
- Notizen und Checklisten erstellen
- Foto aufnehmen
Wichtig ist mir eine Kamera mit zwei Objektiven um etwas bessere Handyfotos zu erstellen (die beste Kamera ist die, die man immer dabei hat).
Volla Phone
Das Volla Phone versucht zwei Ziele zu erreichen: neben erhöhtem Datenschutz steht auch der Fokus auf das Wesentliche im Vordergrund. So aktivieren Benachrichtigungen den Bildschirm nicht, ein Druck auf den Home Button zeigt keinen App Launcher sondern das sogenannte Springboard. In diesem können Textkommandos eingegeben werden – auch zeigt es letzte SMS-Konversationen und einige Verknüpfungen zu Grundfunktionen an.
2017 wurde das Startup gegründet, 2018 an einem ersten Prototyp gearbeitet. 2019 standen ein zweiter Protoyp und die erste Kickstarter-Kampagne im Fokus. Im vergangenen Jahr 2020 wurde die Hardware finalisiert und auch an die ersten Interessenten der zweiten Kampagne versendet. Seitdem ist das knapp 360 EUR teure Smartphone auch im eigenen Online-Shop erhältlich.
Das Gerät basiert auf dem baugleichen Gigaset GS290, hat aber einige Anpassungen (z.B. ältere Bluetooth- und WLAN-Module):
Grösse | 6,3 Zoll mit V-Notch (2340×1080 Pixel, 430 nits) |
SoC | Mediatek Helio P23 OctaCore (8x 2.20 GHz) |
Speicher | 64 GB + microSDHC |
Frontkamera | 16 MP |
Kamera | 16 MP + 2 MP |
SIM | 2x Nano SIM, 4G LTE CAT6, VoLTE, VoWiFi |
Konnektivität | GPS/AGPS, Bluetooth 4.2, WiFi 4 (2.4 GHz, 5 GHz) |
Anschlüsse | USB-C, 3.5mm-Klinke |
Akku | 4.700 mAh, Schnellladen via 9V2A, Drahtlosladen |
Sonstiges | Fingerabdruck, NFC |
Gewicht | 190g |
Zum Lieferumfang gehören auch:
- Bedienungsanleitung
- Transparente Schutzhülle
- USB-Kabel und EU-Netzteil
- SIM-Nadel
Im Online-Shop gibt es inzwischen auch eine weitere Hülle sowie ein Display-Schutzglas. Sämtliches Zubehör für das Gigaset-Pendant sollte ebenfalls passen.
Erster Eindruck
Der erste Eindruck des Geräts ist positiv, es liegt gut in der Hand und hat ein angenehmes Gewicht – auch wenn mir ein etwas kleineres Gerät lieber gewesen wäre. Die Bootzeit des Geräts ist mit 90 Sekunden relativ lang, aber so häufig startet man das Gerät in der Regel auch nicht neu.
Das auf AOSP-basierte Volla OS weiss zu überzeugen: es ist sehr minimalistisch und nervt nicht mit vorinstallierter Bloatware. Der Aurora Store stellt eine datenschutzfreundliche Alternative zum Google Play Store und wird auf Wunsch konfiguriert. Standardmässig wird zum Download ein anonymisierter Account des Projekts genutzt, es kann jedoch auch ein persönlicher Google-Account genutzt werden. F-Droid ist von Werk aus installiert und beinhaltet lediglich quelloffene Software. Es wird kein Account beim Hersteller benötigt.
Derzeit basiert Volla OS noch auf Android 9, es wurde jedoch bereits ein Update auf Android 10 in Aussicht gestellt. Der absolute Mehrwert des Volla Phones ist, dass es bereits sehr früh die Community miteinbezogen hat. So gibt es mit Ubuntu Touch und Sailfish OS zwei weitere Betriebssysteme – ersteres kann sogar direkt bei der Bestellung ausgewählt werden.
Beim Koppeln von Bluetooth-Geräten werden Kontakte nicht automatisch synchronisiert – ideal, wenn man sich z.B. mit einem Leihwagen verbindet. Durch eine Partnerschaft mit hide.me gibt es einen Monat kostenlosen VPN-Zugang.
App-Auswahl
Es galt jetzt nicht nur Ersatz für sämtliche iOS-Apps zu finden, sondern auch datensparsamere Android-Apps zu finden. Nach einigen Tests bin ich schlussendlich bei folgender Auswahl gelandet:
- AudioAnchor – Hörbuch-/Podcast-Player
- ConnectBot – SSH-Client
- DuckDuckGo Privacy Browser
- K-9 Mail
- FreeOTP+ – Zwei-Faktor-Authentifizierung
- KeePassDX
- MuPDF Viewer
- Nextcloud
- RadarWeather
- Schlichter Rechner
- UntrackMe
- Signal und Threema
Für Threema sowie Banking- und ÖPNV-Apps habe ich temporär den Aurora-Store genutzt. Der integrierte Mail-Client unterstützt leider keine Unterornder, auch fehlten ein Taschenrechner, PDF-Anzeigeprogramm sowie eine Wetter-App. Dafür werden Fennec (Firefox ohne proprietären Code und Telemetrie) und DAVx⁵ für Cal- und CardDav vorinstalliert. RadarWeather benötigt einen OpenWeatherMap API-Schlüssel. UntrackMe finde ich sehr praktisch, es konvertiert Social-Media Links (YouTube, Twitter, Reddit,…) zu datensparsameren Alternativ-Frontends (Invidious, Nitter, Teddit,…).
Bericht nach 2 Monaten
Am meisten beeindruckt mich immer noch die fantastische Akku-Laufzeit des Geräts. Bei oben beschriebener Benutzung und über Nacht deaktiviertem WLAN kommt ich auf 5 bis 6 Tage Akkulaufzeit – das hatte ich bei noch keinem Smartphone bisher. Der Fingerabdruck-Scanner funktioniert schnell und sehr zuverlässig.
Für meine Anforderungen reicht das knapp 4 Jahre alte SoC (Q3/2017) aus. Was in meinem Augen tatsächlich problematisch ist, ist die geringe Lautstärke bei Telefonaten. Hier muss ich auf das Maximum gehen, um draussen Telefonate führen zu können – auch lässt hier die Qualität im Vergleich mit dem iPhone zu wünschen übrig. Allgemein sind die Abstufungen zwischen den einzelnen Stufen der Lautstärke seltsam. Gefühlt wird die Lautstärke auf den ersten 6 Stufen definiert, danach tut sich nichts mehr. Die niedrigste Stufe könnte noch einen Tick leiser sein. Gleiches gilt für die Helligkeit – die letzte Stufe ist für nächtliches Surfen eindeutig zu hell.
Der Fokus der Kamera hat Optimierungspotential – er ist recht träge und leider nicht immer präzise. Bei ausreichender Lichtmenge macht die Kamera passable Bilder – aber keineswegs vergleichbar mit einem iPhone. Dieser Vergleich ist auch nicht fair, so stehen den iPhones weitere Chips zur Bildoptimierung in Echtzeit und Machine Learning-Beschleunigung zur Verfügung.
Zukunftswünsche
Ich wünsche mir eine bessere Abstufung der Lautstärke, sowie ein generell ausgewogener Klang – mehr Bässe, mehr Klarheit. Warum einem Gerät in 2021 immer noch Stereo-Lautsprecher fehlen, ist mir ein Rätsel. Eine ausgewogenere Kamera wäre wünschenswert – möglicherweise lässt sich das schon per Software regeln. Eine Swipe-fähige Tastatur steht weit oben auf meiner Wunschliste.
Den Grundgedanken des Springboards (in der deutschen Übersetzung Sprungbrett) begrüsse ich prinzipiell, jedoch fehlen mir derzeit zu viele Funktionen. Es wäre schön, wenn sich die Liste letzter Konversationen nicht nur auf SMS beschränkt, sondern auch Signal-Chats beinhaltet. Ferner wäre es schön, eigene Apps in die Schnellzugriffliste aufnehmen zu können.
Schön wäre auch ein optionales kleineres Gerät. Phablets mögen ihren Nutzen haben und weit verbreitet sein – ich wäre jedoch dankbar, wenn mein Smartphone auch in meine Hosentasche passt.
Fazit
In Summe weiss das Volla Phone zu überzeugen – es bietet alles, was man im Alltag braucht und ist dabei frei von proprietären Diensten und kryptischen Datenschutz-Mechanismen. Das Angebot quelloffener Apps ist nicht immer mit den Vorbildern vergleichbar, wächst aber stetig. Die Akku-Laufzeit ist einzigartig.
Bei der Kamera und dem Ton gibt es noch Optimierungsbedarf, aber ich bin hier optimistisch. Hallo Welt Systeme UG hat hier die Community früh eingebunden und pflegt weiterhin einen aktiven Dialog. Die Alternativen Ubuntu Touch und Sailfish OS habe ich noch nicht ausprobiert – vielleicht hole ich das später nach.
Für mich ist das Volla Phone ein hervorragender Kompromiss zwischen Alltagstauglichkeit und Datenschutz – genau das, was ich gesucht habe. Ich bin gespannt, welche Veränderungen Volla OS 10 bringen wird.
vielen dank für die so genaue beschreibung/analyse!
Danke für den Bericht, bin gerade auf der Suche! Frage, kann man dieses Sprigboard entfernen? Hätte doch lieber keinen roten Punkt und einzelne Oberflachen. Welche Apps sind "Systemapps" und lassen sich u.U. nicht entfernen?
Hallo, ich benutze das Volla Phone seit gut einem Jahr. Als erstes bin ich in Einstellungen/Apps & Benachrichtigungen/Standard-Apps von Volla auf das außerdem schon vorhandene Trebuchet gewechselt. Also zu einer einfachen klassischen Startapp. Mich hat der Volla Launcher einfach nicht angesprochen.
Hallo
Wie hast du Threema genutzt ? Nur im Polling Modus ? Oder doch über den Google Push Service ?
Würde mich auch interessieren.