Hinweis: Das ist ein Meinungsartikel.
Der Begriff 'Digitalisierung' scheint sich zum Hype-Wort des 22. Jahrhunderts zu entwickeln. Als Einstimmung zum Thema empfehle ich die Logbuch Netzpolitik Folge 408. Darin nehmen Linus Neumann und Tim Pritlove in ihrer gewohnt lustigen und provokanten Art, das digitale Neandertal auseinander. Die beiden fordern eine wohlbedachte und intelligente Digitalisierung in der Verwaltung, und nicht nur dort.
Was bedeutet 'Digitalisierung' eigentlich?
Unter Digitalisierung versteht man die Umwandlung von analogen, d. h. stufenlos darstellbaren Werten bzw. das Erfassen von Informationen über physische Objekte in Formate, welche sich zu einer Verarbeitung oder Speicherung in digitaltechnischen Systemen eignen.
Ein anschauliches Beispiel ist die Steuererklärung. Früher erhielt man die Steuererklärung in Form von Formularen per Post zugeschickt. Diese hat man von Hand ausgefüllt und mit einem Haufen von Papierbelegen an das Finanzamt zurückgeschickt. Dort wurde diese Eingaben entweder manuell bearbeitet, oder in die lokale Software der Behörde übertragen.
Heute macht man seine Angaben für die Steuererklärung direkt auf einer Webseite des Finanzamts, in einer Form, die die direkte Weiterverarbeitung der Daten ermöglicht. Das ist für alle Beteiligten eine Win-win-Situation. Der Steuerpflichtige hat weniger Arbeit und kann die Angaben aus dem letzten Jahr leicht übernehmen; das Finanzamt muss sich nicht mit Medienbrüchen befassen, sondern kann die eingegebenen Daten direkt verarbeiten.
Das ist ein positives Beispiel der Digitalisierung von vormals analogen Prozessen. Kommen wir nun zur Kehrseite der Medaille.
Angenommen ihr verwendet eine Geschäfts-Software, die ihr von einer grossen IT-Firma gekauft habt. Wenn ihr darin einen Fehler entdeckt oder eine Frage zur Verwendung habt, werdet ihr heute in eine Prozesskette gezwungen, die entweder fehlschlägt oder zu keinem Ergebnis für euch führt. Ich kenne leider keine erfolgreichen Storys dazu. Bestenfalls landet ihr in einem Call-Center.
Während der letzten 25 Jahre habe ich Support für Software-Produkte geleistet. Dabei habe ich immer und ausschliesslich die besten Erfahrungen mit dem persönlichen Kontakt zwischen Kunden und Supportern gemacht. Das war und ist das optimale Vorgehen, um Probleme zu lösen und Anforderungen aufzunehmen. Für grosse IT-Unternehmen mag dieses Verfahren nicht skalieren (im Sinne der Gewinnmaximierung); denkt man jedoch an die Kundenzufriedenheit, kenne ich keinen besseren Weg, als die Lösung untereinander zu besprechen. Damit meine ich Mensch-zu-Mensch, im Gegensatz zu Kunde-zu-Algorithmus.
Am Samstag hatte meine Frau Geburtstag. Wir wollten seit drei Jahren wieder einmal ins Kino gehen und danach den Abend in einem Restaurant ausklingen lassen. 'Ins-Kino-gehen' ist heutzutage ein Opfer der Digitalisierung geworden. Wir haben einige Kinogutscheine, die schon seit ein paar Jahren an unserer Pinwand heften. Uns erschien das Risiko zu gross, mit diesen Gutscheinen unangemeldet im Kino zu erscheinen. Deshalb habe ich auf der Webseite des Kinos Plätze reserviert und die Gutschein-Codes eingetippt. Die Gutscheine wurden vom Algorithmus bestätigt. Danach erschien auf der Zahlungsseite der volle Betrag; Gutscheine = Pustekuchen. Kein Problem; dann ruft man schnell beim Kino an, um zu fragen, wie das denn laufen soll. Leider findet man in der Webpräsenz des Kinos keinerlei persönliche Kontaktmöglichkeiten. Auch eine Suche im Internet nach einer Telefonnummer des Kinos verlief erfolglos.
Ich bin gespannt, was morgen passiert, wenn wir mit unseren Gutscheinen ohne Reservierung beim Kino eintreffen. Vermutlich werden wir wegen Betrugsversuch verhaftet.
Ihr seht, worauf ich hinaus will: Digitalisierung vergisst in den meisten Fällen den Sonderfall, den man auch 'Mensch' nennt. Der Mensch ist in digitalisierten Prozessen ein Störfaktor, den es zu umgehen gilt. Der findige Informatiker könnte auf die Idee kommen, Gleiches mit Gleichem zu erwidern. Wie wäre es, den eigenen Algorithmus auf die Kino-Prozesse loszulassen? Ich kann euch sagen, wozu das führt: Ihr geht in kein Restaurant, kein Museum und kein Kino mehr. Weil euer 'gesunder Menschenverstand'-Algorithmus mit dem kommerziell-ausgelegten Kino-Programm kollidieren wird.
Bevor ich diesen Artikel unnötig in die Länge ziehe (ich könnte noch viele Beispiele von Menschen-inkompatibler Digitalisierung nennen), fasse ich zusammen:
- Digitalisierung macht dann Sinn, wenn sie der Anwenderin dient.
- Sie schadet der Gesellschaft, wenn sie ausschliesslich zur Gewinnoptimierung eingesetzt wird.
- Digitalisierung mindert menschliche Beteiligung (könnt ihr euch selbst überlegen, ob das gut oder schlecht ist).
- Digitalisierung vereinfacht und geht nicht auf Sonderfälle ein.
- Digitalisierung kann helfen, wenn sie gut gemacht ist.
- In den meisten bekannten Fällen ist Digitalisierung schlecht gemacht, und schränkt den Nutzer ein, bzw. verhindert einen erfolgreichen Prozessabschluss.
Welche Erfahrungen habt ihr mit Digitalisierung gemacht?
"Der findige Informatiker könnte auf die Idee kommen, Gleiches mit Gleichem zu erwidern. Wie wäre es, den eigenen Algorithmus auf die Kino-Prozesse loszulassen? " <-- Ein Narrativ welches immer mehr Verbreitung findet. Ein Informatiker der nur in Algorithmen denkt und von dem Faktor Mensch keine Ahnung hat, entscheidet allein über Prozesse.
Ich bin ja mal gespannt, wie Euer Kinobesuch war...
Dein Artikel spricht mir aus der Seele. Überall wird von Digitalisierung gesprochen, viele Bereiche des Alltags werden digitalisiert (sofern sie es nicht schon sind), allerdings scheinen sich die Verantwortlichen (viel) zu wenig Gedanken über die Nutzer*innen zu machen.
Mein Eindruck ist, dass sehr viele Kunden*innen den Sprung ins Digitale nicht schaffen, weil sie gar nicht verstehen, wie was funktioniert. Vermutlich trauen sich die Betroffenen auch nicht sich zu beschweren, weil sie sich sonst offenbaren müssten.
Zu komplizierte und immer wieder anders funktionierende Anmeldedialoge.
Apps und Webseiten die vollkommen überladen mit Infomationen und Features sind.
Apps und Webseiten, deren primäres Ziel weniger darin zu liegen scheint, Nutzer*innen einen Mehrwert zu bieten, sondern vielmehr darin, Nutzerdaten abzugreifen.
Die (nicht immer ganz unbegründete) Furcht vor der Online-Zahlung.
Ich würde nicht nur sagen, das Digitalisierung, wenn sie schlecht gemacht ist, den Nutzer einschränkt bzw. einen einen erfolgreichen Prozessabschluss verhindert. Vielmehr habe ich den Eindruck, dass eine nicht zu unterschätzende Gefahr der Exklusion besteht - dass womöglich ganze Teile der Bevölkerung durch eine schlecht gemachte und schlecht durchdachte Digitalisierung von der digitalen Teilhabe und einer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden.
Digitalisierung ist gut, wenn sie das analoge nicht verdrängt, sondern ergänzt.
Zum Beispiel das Internet Archive https://archive.org digitalisiert viele Bücher. Das ist gut, um sie zugänglicher zu machen. Gleichzeitig sammeln sie aber auch physische Bücher in riesigen Lagerhallen. Für die Langzeitarchivierung ist nach wie vor Papier technologisch überlegen.
In meinen Augen (und ich arbeite mit Kindern und Jugendlichen) ist das, was sich Digitalisierung nennt streng gekoppelt an Gewinnstreben von großen Firmen und digitale Medien helfen, dass wirklich von überall auf der Welt Menschen zur Wertschöpfung herangezogen werden.
Die Frage, was ein normaler Privatmensch überhaupt braucht, was ihn glücklicher macht oder was sein Leben erleichtert wird schon lange nicht mehr gestellt. Imho wird nur noch gefragt, welche Entertainment-Angebote ich machen muss, damit möglichst viele meine App nutzen und ich Geld verdienen kann.
Dadurch verarmt natürlich die Landschaft und es gibt viel Monopolisierung. Der Freien Software sei dank, stimmt das nicht überall, aber bei "Mainstream-Personen" ist das wirklich erschreckend, was da übrig bleiben würde, wenn du alle Dienste löschst, hinter denen Monopolisten (oder große Firmen) stehen.
Grüße