Zum Wochenende: Das Urteil lautet: Freibier!

  Ralf Hersel   Lesezeit: 9 Minuten Auf Mastodon ansehen

Eine KI-basierte Schlichtungsstelle würde viele Vorteile für Gerichte, Ombudsleute, sowie für Kläger und Beklagte bringen. Geringere Kosten und schnellere Entscheidungen gehören dazu.

zum wochenende: das urteil lautet: freibier!

Ich weiss nicht, ob ihr euch an Otto Waalkes Parodie auf Gerichtsverhandlungen erinnern könnt. Das Stück "Hohes Gericht" aus dem Jahr 1995 beginnt so:

Ankläger:
Hohes Gewicht, liebe Geschwollenen.
Angenagter, ihnen wird zur Last gelegt,
Sie hätten an dem Mast gesägt!

Angeklagter:
Ich hab nicht an dem Mast gesägt.
Ich hab nur mit dem Ast gefegt.
Da hab ich mich mit Hast bewegt.
Und das hat wohl den Gast erregt.
Und der hat dann den Mast zerlegt!

usw.

Bevor wir zum Urteil in diesem Gerichtsfall kommen, lohnt sich ein Blick auf die Fortschritte im Land Brasilien. Das grösste Land Südamerikas ist für seine Prozessfülle bekannt. Neben seinen Agrarexporten (Soja, Fleisch, Getreide sowie Zuckerrohr) verarbeitet Brasilien knapp 76 Millionen Klagen pro Jahr. Allein der Oberste Gerichtshof in Brasilia bearbeitet jährlich rund 80'000 Fälle. Im Vergleich dazu, verhandelt der Supreme Court der USA jährlich 70 bis 80 Fälle (Faktor 1000). Dies liegt unter anderem daran, dass der Zugang zum Rechtssystem für Menschen mit geringen finanziellen Mitteln in Brasilien verfassungsrechtlich verankert ist: So gibt es einen Anspruch auf eine Befreiung von Prozesskosten oder kostenlose Rechtshilfe.

Um diese Massen zu bearbeiten, setzt der Oberste Gerichtshof auf KI-Unterstützung. Im letzten Jahr wurde das Werkzeug MariAI eingeführt, welches auf die Bedürfnisse der brasilianischen Justiz angepasst und auf Googles Gemini und OpenAIs ChatGPT aufsetzt. Damit konnte eine Produktivitätssteigerung von 4,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr erreicht werden. Der Aktenbestand des Gerichts sank auf 18'670 Verfahren, den niedrigsten Stand seit 1992.

Was den Richtern nützt, nützt jedoch auch den Anwälten. Laut einer Umfrage nutzt über die Hälfte aller brasilianischen Anwälte täglich KI-Anwendungen. Dadurch wurden bis 2024 über 39 Millionen neue Klagen eingereicht, was einem Anstieg von 46 Prozent seit 2020 entspricht.

Ich habe das hier sehr stark verkürzt. Lest bitte den Bericht aus dieser Quelle.

Einordnung

Dass der Zugang zum Rechtssystem in Brasilien verfassungsrechtlich verankert ist, begrüsse ich. Selbstverständlich gibt es diesen Rechtszugang auch in europäischen Staaten. Der Unterschied liegt in den finanziellen Möglichkeiten der Kläger, einen Rechtsstreit auszutragen oder gar erst zu beginnen. In Europa überlegt man sich zehnmal, ob man die Mittel hat, um einen Rechtsanwalt bezahlen zu können. Selbst mit einer soliden Rechtsschutzversicherung oder einer Gerichtskostenunterstützung ist ein juristischer Streit, z. B. "Ralf gegen Nestlé", sehr wahrscheinlich aussichtslos. Finanziell ist das ein Kampf von David gegen Goliath.

Bei diesem Artikel geht es mir nicht um die Prozesskosten, sondern in erster Linie um die Effizienz, also darum, das Ziel mit möglichst wenig Aufwand zu erreichen.

KI als Schlichter

Das brasilianische Modell ist nicht der Weisheit letzter Schluss, weil damit KI auf der Seite der Gerichte, durch KI auf der Seite der Anwälte aufgewogen wird. Was ich mir vorstellen kann, ist eine Vorinstanz für Kläger und Beklagte, die vor dem Gerichtsgang die Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten abklärt. Solche Möglichkeiten gibt es bereits in Form von Ombuds- und Schlichtungsstellen. Die deutsche Verbraucherzentrale schreibt dazu:

  • Ombudsleute vermitteln bei Streitigkeiten zwischen Ihnen und Ihrer Bank, Bausparkasse, Versicherung oder einem anderen Institut. Teilweise können sie für Anbieter verbindliche Entscheidungen treffen.
  • Das Verfahren ist für Sie kostenlos. Es bietet eine Alternative zum Gerichtsprozess.
  • Sind Sie mit dem Vorschlag des Ombudsmanns oder der Ombudsfrau nicht einverstanden, steht Ihnen weiterhin der Rechtsweg offen.

Die Vorteile dieses Verfahrens liegen auf der Hand. Bevor man vor Gericht zieht, kann man eine Rechtsstreitigkeit schneller und kostengünstiger abklären, oder sogar entscheiden lassen. Nun stelle ich mir die Frage, ob man so etwas auch mit einer KI-gestützten Schlichtungsplattform effizienter gestalten kann.

Das Experiment

Mir ist nicht bekannt, ob es eine solche Plattform bereits gibt (ich habe auch nicht danach gesucht). Stattdessen versuche ich, einen Anwendungsfall mit den verfügbaren KI-Mitteln zu konstruieren. Dafür habe ich die Datenschutz- und Privatsphäre-freundliche KI Lumo von Proton im Ghost-Modus verwendet.

Achtung, jetzt wird es lang, weil Lumo sehr geschwätzig ist. Der initiale Prompt lautet:

Du spielst die Rolle eines Richters oder einer Schlichtungsstelle. Du erhältst Eingaben zu einer rechtlichen Streitigkeit, sowohl vom Kläger, als auch von der Beklagten. Deine Aufgabe ist es, eine rechtliche Einschätzung bezüglich des Erfolges oder Misserfolges einer ordentlichen Klage vorzunehmen. Beziehe dich bei deiner Einordnung und Begründung ausschliesslich auf Quellen und Urteile, die einer juristischen Überprüfung standhalten.

Vorgehen: Als Erstes nimmst du die Stellungnahmen von Kläger und Beklagtem entgegen. Dann stellst du Rückfragen an beide, falls es einer Klärung bedarf. Danach gibst du eine Einschätzung des möglichen rechtlichen Ausgangs einer Gerichtsklage ab und gibst Handlungsempfehlungen an Kläger und Beklagten ab. Bei diesen Empfehlungen geht es darum, ob sich ein Gerichtsverfahren lohnt oder nicht.

Lumo antwortet:

Ich übernehme gern die Rolle einer neutralen Schlichtungsstelle und helfe dabei, die Positionen beider Parteien zu strukturieren und mögliche rechtliche Erfolgsaussichten einer ordentlichen Klage einzuschätzen.

Erster Schritt – Stellungnahmen einholen
Bitte senden Sie mir jeweils die vollständige Darstellung des Sachverhalts aus Sicht des Klägers und anschließend aus Sicht des Beklagten. Dabei sollten folgende Punkte möglichst klar formuliert werden:

    Parteien – Wer ist Kläger bzw. Beklagter (Name, Rechtsform, ggf. Vertretungsberechtigte).
    Gegenstand der Streitigkeit – Was wird konkret beansprucht bzw. bestritten (z. B. Vertragserfüllung, Schadenersatz, Unterlassung).
    Rechtsgrundlage – Auf welche gesetzlichen Bestimmungen oder vertraglichen Klauseln beruft sich jede Partei?
    Chronologie – Wichtige Daten und Ereignisse in zeitlicher Reihenfolge (Vertragsabschluss, Leistungserbringung, Mahnungen, Kündigungen etc.).
    Bisherige Kommunikation – Schriftwechsel, Mahnungen, Angebote zur gütlichen Einigung.
    Beweismittel – Welche Dokumente, Zeugen oder sonstigen Nachweise liegen bereits vor?
    Schadenshöhe / Forderungsbetrag – Falls relevant, konkrete Zahlenangaben.
    Zielvorstellung – Was erhofft sich jede Seite vom Verfahren (z. B. Zahlung, Rückabwicklung, Feststellung der Rechtslage).

Zweiter Schritt – Klärungsfragen
Nachdem ich die beiden Darstellungen erhalten habe, werde ich gezielte Rückfragen formulieren, um Unklarheiten zu beseitigen (z. B. fehlende Vertragsklauseln, genaue Fristen, mögliche Verjährungsfristen, Zuständigkeiten).

Dritter Schritt – Rechtliche Einschätzung & Handlungsempfehlungen
Auf Basis der vollständigen Informationen prüfe ich:

    Ob die behaupteten Ansprüche nach geltendem Recht (z. B. BGB, HGB, spezieller Fachvorschriften) grundsätzlich durchsetzbar sind.
    Welche Einwendungen (Einrede der Verjährung, Unwirksamkeit von Klauseln, Mitverschulden etc.) die Gegenseite plausibel vorbringen kann.
    Wie die Erfolgsaussichten einer ordentlichen Klage im jeweiligen Zivilprozess (Klageart, zuständiges Gericht, Kostenrisiko) einzuschätzen sind.
    Ob alternative Streitbeilegungsverfahren (Mediation, Schlichtung, Vergleich) sinnvoller sein könnten.

Anschließend gebe ich beiden Parteien konkrete Empfehlungen, ob ein gerichtliches Verfahren aus Sicht von Aufwand, Kosten und Erfolgsaussichten empfehlenswert ist oder ob ein außergerichtlicher Vergleich vorzuziehen wäre.

Bitte schicken Sie mir nun die detaillierten Stellungnahmen von Kläger und Beklagtem, damit wir mit dem Prozess beginnen können. Ich stehe für Rückfragen jederzeit bereit.

Jetzt übernehme ich die Rolle von Kläger und Beklagtem. Es handelt sich um einen fiktiven Fall. Meine Eingabe lautet:

Kläger:
"Mein Nachbar schneidet seine Apfelbäume nicht zurück. Diese befinden sich in einem Abstand von 1 Meter von der Grundstücksgrenze. Die Äste der Bäume wachsen ca. 2 Meter weit in mein Grundstück hinein. Die reifen Äpfel fallen auf mein Grundstück und ich muss sie entsorgen. Für die Entsorgung entstehen mir Kosten von jährlich ca. 100 Euro. Ich habe den Nachbarn mehrfach darum gebeten, die Bäume zurückzuschneiden. Dieser Bitte ist er nicht nachgekommen."

Beklagter:
"Bei meinen Apfelbäumen handelt es sich um eine schützenswerte und alte Sorte, deren Erhalt aus Gründen der Biodiversität sichergestellt werden muss. Ein Zurückschneiden der Bäume würde diese in Gefahr bringen. Ich habe meinem Nachbarn angeboten, die Äpfel von den überhängenden Ästen zu ernten und selbst zu verwenden. Darauf ist er nicht eingegangen."

Nun kommt die Antwort von Lumo in der Rolle des Schlichters:

Bewertung

Tja, was soll ich sagen? Ich finde nur einen Anhaltspunkt für Halluzination: "Der Verursacher (hier der Baum) trägt grundsätzlich die Kosten ...". Der Baum trägt die Kosten !? Ausserdem bin ich kein Jurist, weshalb ich die Antworten von Lumo nicht gut bewerten kann. Gemäss meinem gesunden Menschenverstand, scheinen sie Hand und Fuss zu haben. Für dieses Experiment hätte ich auch eine andere KI verwenden können und vermutlich ähnliche Ergebnisse erhalten. Warum ich Lumo verwendet habe, steht schon oben in diesem Artikel. Ihr könnt es auch hier nachlesen. Nein, ich werde nicht von Proton bezahlt. Die sind noch nicht einmal Sponsor von GNU/Linux.ch.

Auch ist es nicht jedem gegeben, einen initialen Meta-Prompt zu schreiben. Eigentlich heisst das Mega-Prompt, wobei ich diese Bezeichnung falsch finde und lieber den Begriff Meta-Prompt verwende. Mein Prompt ist nicht optimal, wenn man den Regeln für das Schreiben eines Meta-Prompts folgt. Doch für das Experiment genügte er. Daher würde ich eine KI-basierte Ombuds-Plattform begrüssen, die öffentlich (nicht von Firmen) betrieben würde.

Die Vorteile sind offensichtlich:

  • eine geringe Eintrittsschwelle
  • keine (oder sehr niedrige) Kosten für die Anwender:innen (Kläger und Beklagte)
  • Entlastung von Schlichtungsstellen und Gerichten
  • Kostenvermeidung bei allen Betroffenen
  • weniger und schnellere Gerichts- und Schlichtungsverfahren
  • David hätte gegen Goliath bessere Chancen, ohne einen Kredit für ein Gerichtsverfahren aufnehmen zu müssen.

Ja, aber Ralf! Dann werden doch Richter:innen und Schlichter arbeitslos durch die KI. Nein, weil diese Stellen überlastet sind. Eine Vorabklärung, wie ich sie in diesem Beitrag geschildert habe, würde niemandes Job kosten. Es würde die Juristen entlasten und ihren Job interessanter machen, weil sie sich nicht mehr mit jeder Nichtigkeit befassen müssten.

Fazit

Im Namen des Volkes:
Wenn einer einen Gast zersägt
Weil ihn ein Gymnasiast erregt
Der vor seinem Palast gefegt
Dann wird die Tat mit Knast belegt!
Wenn er als Kontrast erwägt
Dass er sein Geld zum Pastor trägt
Der auch den Wunsch nach Zaster hegt
Da wird das nicht mit Knast belegt:
Stattdessen wird der Mast zersägt.
Und auf das Grab vom Gast gelegt!
Wem dieser Spruch nicht passt
Trägt die Kosten des Verfahrens!

Das hohe Gericht zieht sich zum Besäufnis zurück
Das Urteil lautet: Freibier für alle!

Titelbild: https://www.die-bibel-verstehen.de/zentrale-bibelgeschichten/altes-testament/david-gegen-goliath

Quellen:

https://genius.com/Otto-waalkes-hohes-gericht-lyrics

https://www.derstandard.at/story/3000000289749/brasilianische-richter-nutzen-ki-um-der-flut-an-faellen-herr-zu-werden-anwaelte-legen-nach

https://noticias.stf.jus.br/postsnoticias/stf-lanca-maria-ferramenta-de-inteligencia-artificial-que-dara-mais-agilidade-aos-servicos-do-tribunal/

https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/geld-versicherungen/sparen-und-anlegen/im-streitfall-der-ombudsmann-als-mittelweg-zwischen-kapitulation-und-klage-11211

https://lumo.proton.me/guest

Tags

Justiz, Gerichte, Schlichtung, Ombudsmann, Künstliche Intelligenz

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