Kennt ihr Prof. Francesca Bria? Mir ist sie vor Jahren aufgefallen, als sie die Daten der Stadtverwaltung Barcelonas befreit und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt hat. Ich dachte, ich hätte einen Artikel dazu geschrieben, finde ihn aber nicht mehr. Nun hat sie zusammen mit Prof. Paul Timmers und Dr. Fausto Gernone im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung eine Studie mit dem Namen "EuroStack - A European Alternative for Digital Sovereignty" geschrieben.
Martin Hullin, Direktor der Bertelsmann-Stiftung, fasst die Studie so zusammen:
Wie der "EuroStack" Europa digitaler, unabhängiger und wettbewerbsfähiger machen soll
Europa läuft Gefahr, den Anschluss an die globalen digitalen Marktführer wie die USA und China zu verlieren. Die "EuroStack"-Initiative soll diesen Trend umkehren, indem sie den Aufbau einer eigenen, umfassenden digitalen Infrastruktur für Europa anstrebt. Das industriepolitische Konzept verbindet Technologie, Finanzierung, wirtschaftliche Entwicklung, politische Steuerung, Nachhaltigkeit und Gemeinwohl. Eine Analyse der Bertelsmann Stiftung und eines internationalen Expert:innenteams unter Leitung der Innovationsökonomin Francesca Bria geht davon aus, dass dieser Wandel etwa zehn Jahre dauern und Investitionen in Höhe von rund 300 Milliarden Euro erfordern wird.
Mehr als 80 Prozent der digitalen Technologien und Infrastrukturen in Europa werden importiert. 70 Prozent der weltweit eingesetzten Grundmodelle für künstliche Intelligenz (KI) kommen aus den USA. Nur 7 Prozent der Forschungsausgaben im Bereich Software und Internet werden von europäischen Unternehmen getätigt. Allein diese drei Zahlen verdeutlichen die große Abhängigkeit Europas von anderen Wirtschaftsmächten im Bereich der Digitalisierung. Der "EuroStack" soll der Schlüssel zur digitalen Souveränität und Selbstbestimmung der Europäischen Union werden.
Die "EuroStack"-Initiative, die von einer parteiübergreifenden Koalition im Europäischen Parlament unterstützt wird und aus einer Veranstaltung des Parlaments im September 2024 hervorging, bringt führende Unternehmen, Wissenschaftler:innen, politische Entscheidungsträger:innen und die Zivilgesellschaft zusammen. Über die technologische Unabhängigkeit hinaus zielt der "EuroStack"-Ansatz darauf ab, die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie zu stärken, Innovationen voranzutreiben, widerstandsfähige souveräne Infrastrukturen aufzubauen, gegenseitige Netzwerke zu erweitern und digitale Technologien für das Gemeinwohl zu nutzen. Zentraler Bestandteil des Konzepts ist die Einbeziehung der demokratischen Werte, der sozialen Standards und der Nachhaltigkeitsziele der EU.
Die digitale Zukunft selbst in die Hand nehmen
„Wir haben gesehen, wie verwundbar die europäischen Staaten und Volkswirtschaften sind, wenn sich ideologische Interessen mit der technologischen und wirtschaftlichen Macht in anderen Teilen der Welt verbünden. Um seinen Platz zu behaupten, muss Europa die Digitalisierung aktiv gestalten, anstatt Trends hinterherzulaufen, die anderswo entstehen. Es ist an der Zeit, dass die Europäer:innen ihre digitale Zukunft selbst in die Hand nehmen“, sagt Martin Hullin, Director des Bereichs Digitalisierung und Gemeinwohl bei der Bertelsmann Stiftung.
Das Rückgrat des „EuroStack“ bilden Spitzentechnologien, die sich gegenseitig beeinflussen, darunter Halbleiter, Netze und Satelliten, Software, Cloud, Quantentechnologie, das Internet der Dinge und - von besonderer Bedeutung - Daten und KI. Europa muss seine eigenen Fähigkeiten, Entwicklungs- und Produktionskapazitäten in diesen Bereichen der Spitzentechnologie ausbauen. Daraus sollen gemeinsame Dienste für alle EU-Bürger entstehen, zum Beispiel föderierte Datenräume, eine EU-weite digitale ID oder der digitale Euro. Das Konzept beschreibt auch Prinzipien, die sich in den Anwendungen wiederfinden sollen: von Interoperabilität und dezentralen Strukturen über Nachhaltigkeit und Cybersicherheit bis hin zu inklusivem Zugang und der Förderung der Demokratie.
Umfassender Politikwandel als Voraussetzung
Der "EuroStack"-Ansatz setzt einen umfassenden Politikwechsel hin zu einer tieferen Integration voraus - ähnlich wie die Einführung des Euro transnationale Strukturen und Prozesse erforderte. Er sieht eine EU-weite digitale Infrastruktur vor, mit gemeinsamen Plattformen, Datenräumen, Standards und koordinierten Strategien und Investitionen. Regierungen und Unternehmen würden sich ein "Europa zuerst"-Mandat zu eigen machen, beispielsweise durch einen "Buy European Act", bei dem in Europa hergestellte digitale Produkte Vorrang vor nationalen Interessen und ausländischen Alternativen haben. Das Ergebnis wäre ein vollständig integriertes, digitales Ökosystem für interoperable Dienste - und damit die nächste Stufe des europäischen Binnenmarktes.
Der "EuroStack"-Bericht geht davon aus, dass der Aufbau dieses digitalen Ökosystems etwa zehn Jahre dauern wird - deshalb sollte die Initiative nun schnell anlaufen. Vor allem zum Start braucht es entschlossenes Handeln sowie erhebliche Investitionen. Expert:innen schätzen, dass bis 2035 rund 300 Milliarden Euro für den "EuroStack" benötigt werden. Als erster Schritt sollten 10 Milliarden Euro in einen europäischen Technologiefonds fließen. Dieser Fonds würde die Finanzierung innovativer und skalierbarer digitaler Produkte "made in Europe" ankurbeln, etwa auf den Gebieten Robotik, Biotechnologie und öffentliche Dienste. Welche Produkte eine Förderung erhalten, ließe sich im Rahmen eines EU-weiten Innovationswettbewerbs, einer „EuroStack Challenge", ermitteln.
Darüber hinaus skizziert der Bericht eine Reihe industriepolitischer Instrumente, die auf die wichtigsten Technologiesektoren zugeschnitten sind: flächendeckender 5G-Ausbau, gezielte Investitionen in KI-, Quanten- und Cloud-Technologien sowie die Bereitstellung gemeinsamer Daten und zugänglicher digitaler Infrastrukturen - als Gegenentwurf zu den geschlossenen Systemen außerhalb Europas.
Europas Souveränität erfordert einen Technologiesprung
"Die für den 'EuroStack' erforderlichen Maßnahmen sind ehrgeizig und komplex, aber sie sind dringend notwendig", sagt Francesca Bria, Innovationsökonomin, Expertin für Digitalpolitik und Hauptautorin des Berichts. "Europas Souveränität erfordert einen Technologiesprung. Wir importieren derzeit Technologien, die unsere Autonomie und unsere Werte untergraben. Der 'EuroStack' ist unser 'Moonshot'-Moment, die digitale Evolution des Euro und des Binnenmarktes. In Verbindung mit einem Europäischen Fonds für souveräne Technologien, um Talente anzuziehen sowie einheimische Chips, souveräne KI-Clouds, dezentrale und quelloffene Produkte zu skalieren, ist er eine strategische Notwendigkeit. So wird Europa aus eigener Kraft innovativ und führend sein."
Einordnung
Wenn es um den digitalen Sektor geht, könnte diese Studie auch "Make Europe Great Again" titeln. Das ist zwar ein verbrannter Spruch, aber MEGA klingt für mich besser als MAGA. Auch der Finanzbedarf von 300 Mrd. Euro ist Mega. Bei diesem Anspruch darf man nicht vergessen, dass die übrigen hinkenden EU-Sektoren ebenfalls Beträge in Milliardenhöhe fordern. Auf der Wunschliste der mittlerweile überwiegend konservativen Staatsoberhäupter von Europa findet man:
- Aufrüstung
- Wirtschaftsförderung
- Investitionen in die Energiesicherheit
- Innere und äussere Sicherheit
Rechnet man das zusammen, ergibt sich ein Finanzbedarf von mindestens 1 Billion Euro, verteilt über die nächsten 5 bis 10 Jahre. Sosehr ich die Notwendigkeit dieser Ausgaben aufgrund der geopolitischen Lage sehe, umso mehr frage ich mich, welche Milliarden für die Menschen in Europa investiert werden. Wo bleiben diese Themen:
- Klima
- Wohnungsbau
- Infrastruktur
- Bildung
- Sozialausgaben
Wir wissen, dass die Sorgen im finanziell prekären Drittel der Bevölkerung zu emotionalen Wahlentscheidungen führen, die die Gesellschaft spalten und extremistische Parteien befördern. Deshalb bin ich der Meinung, dass die nötigen Investitionen in die harten Sektoren Hand in Hand gehen sollten, mit der Finanzierung der weichen Sektoren, die letztendlich das Bild der Gesellschaft prägen. Was nützt uns ein faschistischer Staat, der sich gut verteidigen kann? Legt das bitte nicht als "lieber rot als tot" aus. Mir geht es lediglich darum, dass man bei den notwendigen Investitionen in ein souveränes Europa die realen Nöte der Bevölkerung nicht vergessen darf. Und kommt mir jetzt nicht mit dem Trickle-down-Effekt, der ist wissenschaftlich schon lange widerlegt.
Titelbild: aus der Studie
Quellen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Francesca_Bria
https://sifted.eu/articles/barcelonas-robin-hood-of-data-francesca-bria
Ich glaube nicht so recht, dass die USA einfach dabei zusehen werden, wie EU-Staaten digitale Souveränität herstellen und das existierende Geschäftsmodell mit den bekannten Digitalkonzernen beenden. Es könnte durchaus sein, dass dieser Zug tatsächlich lange abgefahren ist. Natürlich ist so etwas nicht unmöglich, aber im Zug eines bürokratischen Selbstreformierungsprozesses, der dann auch noch sozialverträglich abgefedert ist? Ich fürchte, das ist eine Illusion, würde mich aber duchaus gerne eines besseren belehren lassen.