Zum Wochenende: Mach es dir doch selbst!

  Ralf Hersel   Lesezeit: 8 Minuten  🗪 2 Kommentare Auf Mastodon ansehen

Die Delegationsökonomie eröffnet neue Möglichkeiten für Arbeitnehmer:innen. Statt Bullshit-Arbeiten zu erledigen, kann man sich auf das Wesentliche konzentrieren und wird gefeuert.

zum wochenende: mach es dir doch selbst!

Titelbild: Gerd Altmann via Pixabay

Keine Sorge, das wird kein Artikel über die Maker-Szene und es geht auch nicht um Selbstbefriedigung. Wie immer ist das ein Meinungsartikel zum Wochenende.

In meiner Organisation wird die Weiterbildung der Mitarbeitenden grossgeschrieben. Auch mir ist es wichtig, dass mein Team sich fortbildet und mindestens ein Mal pro Jahr einen Kurs besucht, der zum Job passt. Interessanterweise muss ich die Mitarbeitenden aktiv auffordern, dieses Angebot anzunehmen.

Zurzeit besuche ich zusammen mit meinem Team von Projektleitern und Anwendungsverantwortlichen über acht Wochen hinweg das Blended Learning "KI Professional - Business". Darin kommen wir intensiv mit allen Aspekten der KI in Berührung: Grundlagen, Training, Tools, Ethik, Einführung ins Unternehmen, Kritik, Recht, Datenschutz, Privatsphäre, Anwendungsfälle, Ökologie, usw.

Bevor jemand in die Kommentare schreibt, dass der Begriff "KI" falsch ist, weise ich darauf hin, dass mir das klar ist. Ich verwende ihn in allen Artikeln als Abkürzung für den Themenbereich, der sich mit maschinellem Lernen, Large Language Models, künstlichen neuronalen Netzen und Inferenz befasst.

Ich stehe dem KI-Hype kritisch gegenüber und sehe es (im Moment) als eine weitere Sau, die durchs Dorf getrieben wird. Wir haben in den vergangenen Jahren viele Marketing-getriebene Hypes erlebt: Green-IT, Big Data, Blockchain und nun ist es KI. Der Verlauf der öffentlichen Aufmerksamkeit für neue Technologien (Hype-Zyklus) lässt sich in einem Diagramm darstellen:

An welcher Stelle wir uns zurzeit befinden, kann ich nicht genau verorten. Ich würde sagen, wir stehen kurz hinter dem "Gipfel der überzogenen Erwartungen" (blauer Punkt). Der Abstieg in das "Tal der Enttäuschungen" lässt sich an mehreren Erkenntnissen erkennen:

  • Zunahme der Halluzinationen
  • Abnahme des von Menschen erzeugten Trainingsmaterials
  • Häufung von inzestuösem Training
  • Weniger Anwendungsfälle als gedacht
  • Das Management in Firmen sieht Vorteile; die Mitarbeitenden sehen Nachteile (Quelle)

Linus Torvalds sagte beim Open-Source-Gipfel, der Mitte September in Wien stattfand: "KI ist 90 Prozent Hype und zehn Prozent Realität."

Ich möchte von zwei Ereignissen berichten, die sich in meinem Umfeld kürzlich ereignet haben. Diese Woche sass ich mit einem Freund in einer Kneipe beim Bierchen. Wir haben uns über die US-Wahl und die politische Situation in Deutschland unterhalten (was sonst?). Im Verlauf des Gesprächs kam die Frage nach der Bevölkerungszahl in Europa auf. Mein Freund zückte sein iPhone, startete die ChatGPT-App und sprach die Frage in das Mikrofon des Smartphones. Die Antwort liess er sich vorlesen und verwendete sie als Grundlage für die weitere Diskussion. Aufgrund der sprachlichen Ein- und Ausgabe sah er keine Quellen der KI-Antwort und hat diese nicht hinterfragt oder überprüft.

Die klassische Suche im Internet wird in Kürze durch die KI-Chat-Suche abgelöst. Damit wird die Überprüfung der Quellen noch unwahrscheinlicher, als sie es bisher schon war. Bisher konnte man die Antwortquelle bewusst ansteuern und entscheiden, ob man eher dem Wikipedia-Artikel oder dem Redit-Post vertraut. Ab jetzt gibt es nur noch eine Antwort. Der Anreiz zur Auswahl und Prüfung wird weiter gesenkt. Die KI wird es schon wissen.

Mein zweites Beispiel geht einen Schritt weiter. Heute sollte eine Ausbildungsverantwortliche dafür argumentieren, warum man in der Firma weiterhin Auszubildende einstellen soll, obwohl das seit Jahren etabliert war. Da die Ausbildungsverantwortliche der Meinung war, dass diese Entscheidung nicht ihre Aufgabe ist, bat sie mich, eine Antwort für sie zu generieren. Mit einem massgeschneiderten Prompt lieferte ChatGPT eine gute Antwort. Nach mehrmaliger Überprüfung des generierten Ergebnisses und ein paar kleinen Korrekturen wurde die Begründung an den Vorgesetzten abgeschickt.

Als Untereinheit des Outsourcings kennen wir die Delegation von Aufgaben an den Kunden. Ihr kennt das aus dem Supermarkt: Kassierer:in oder Self-Scanning. Dabei bin ich mir nicht sicher, was ich besser finde. Wenn ich morgen einkaufen gehe, werde ich die Belegschaft im Supermarkt fragen, was sie davon halten.

In meiner KI-Schulung habe ich gelernt, wie man Dokumente, E-Mails, Antworten, Präsentationen, Grafiken, Bilder, Lieder, Videos und noch viel mehr generieren kann. Das ist beeindruckend und gefährlich aus zwei Gründen:

  1. Der Zeitaufwand für die Überprüfung der Resultate ist enorm. KI ist definitiv kein Instrument zur Effizienzsteigerung. Im Gegenteil dauert mit KI alles viel länger, wenn man es ernst meint. Leider wird eine Mehrheit den Schnellschuss vorziehen.

  2. Aus dem ersten Grund folgt der zweite Grund. Es ist der schleichende Verlust der Fähigkeit, es selbst machen zu können. An dieser Stelle wird häufig die Taschenrechner-Analogie genannt. Seit den 70er-Jahren kann niemand mehr im Kopf rechnen. Kurzer Test (grosses Einmaleins): Wie viel ist 13 x 17? Wie bitte - könnt ihr das nicht mehr im Kopf ausrechnen? Könnt ihr es wenigstens noch auf dem Papier? Wir schreiten vom Jahr 1975, fünfzig Jahre in die Jetztzeit. Könnt ihr noch WhatsApp-Messages, Text-Dokumente, E-Mail-Antworten schreiben? Vielleicht, aber nicht mehr lange.

Meine Einleitung war viel zu lang, aber nötig, um den Kontext zu setzen. Jetzt komme ich endlich auf den Punkt.

Mach es dir doch selbst!

In meinem Berufsleben habe ich schon viele Präsentationsfolien erstellt. In meiner vorletzten Anstellung wurde das zum Exzess getrieben. Der Endgegner (CEO) wollte in zwei Wochen eine Produktpräsentation sehen. In diesen zwei Wochen ging es im Team wie in einem Hühnerstall zu, das den Fuchs erwartete. Jeden Tag wurden neue Versionen der Präsentation erstellt, verworfen, diskutiert und die 33ste Version erstellt. (Anmerkung: es handelt sich um eine US-Software-Firma, für die ich 13 Jahre gearbeitet habe.) Am Tag der Präsentation kam der CEO, sah sich die erste Folie an, war unzufrieden und wollte danach über ganz andere Themen diskutieren. Diese Erfahrung habe ich zigmal gemacht.

Mit dieser Erfahrung im Kopf und dem Outsourcing an Kunden im Sinn kann ich mir eine inhaltliche Delegation an Vorgesetzte gut vorstellen. Anstatt eine Arbeit vorzubereiten (Dokument, Präsentation, Video, Grafik, etc.) könnt ihr diese Aufgabe mit Vorteil an die Empfänger delegieren. Dabei könnt ihr darauf vertrauen, dass eure Vorgesetzten mit der Prompting-Technik vertraut sind; sie werden sich keine Blösse geben. Wenn ihr gute Büro-Soldaten seid, könnt ihr eine Prompt-Vorlage mitliefern oder einen Meta-Prompt abliefern. (Was ein Meta-Prompt ist, erkläre ich in einem zukünftigen Artikel).

Der Vorteil dieses Vorgehens ist, dass jeder Empfänger seine eigene Wahrheit generieren kann. Damit entfällt die etwaige Unzufriedenheit mit eurem Arbeitsergebnis. Denkt das mal für andere Arbeits- und Lebensbereiche durch; es könnten sich interessante Einsichten ergeben.

Es gibt einen kleinen Nachteil bei dieser Delegationsökonomie: Ihr werdet entlassen. Schönes Wochenende.

Bildquellen:

Titelbild: Gerd Altmann, https://pixabay.com/photos/delegate-board-instruct-empower-1971162/

https://de.wikipedia.org/wiki/Hype-Zyklus#/media/Datei:Gartner_Hype_Zyklus.svg

Quellen:

https://slack.com/intl/en-gb/blog/news/the-fall-2024-workforce-index-shows-ai-hype-is-cooling

https://www.derstandard.de/story/3000000242672/linux-vater-torvalds-ki-ist-90-prozent-hype-und-zehn-prozent-realitaet

Tags

KI, Künstliche Intelligenz, Technologiefolgen

Dietmar
Geschrieben von Dietmar am 22. November 2024 um 17:35

Bin absolut deiner Meinung Ralf. Große Klasse dein Artikel zum Wochenende. Ich mag sie auch, diese coolen Typen, die die "schlauen" Tools nutzen. Und sie denken, sie können uns was vormachen. Und vor "KI" sollen wir Angst haben...ha,ha.

Peter Kaimer
Geschrieben von Peter Kaimer am 22. November 2024 um 19:36

Finde ich köstlich, die Darstellung. Wäre auch etwas für ein Kabarett!