Zum Wochenende: Memento mori

  Ralf Hersel   Lesezeit: 6 Minuten  🗪 6 Kommentare

Künstliche Intelligenzien führen zum Verlust der Menschlichkeit.

zum wochenende: memento mori

Wie ihr wisst, schreiben wir zum Wochenende kritische und gesellschaftlich relevante Artikel. Diese dürfen auch einmal unter die Haut gehen, so wie es bei diesem Beitrag der Fall ist. Damit unterstützen wir unseren Anspruch, auch über die Freie Gesellschaft zu schreiben. Heute geht es um die Auswirkungen von Künstlicher Intelligenz auf die Gesellschaft.

Wer mir folgt, weiss, dass ich den Begriff "Künstliche Intelligenz" nicht mag, weil er eine Daseinsberechtigung für eine künstliche Intelligenz postuliert. Tatsächlich ist der Begriff "Intelligenz" noch nicht einmal genau definiert. Alternativ wird das Wort "Maschinelles Lernen" oder "Künstliches neuronales Netzwerk" (KNN) verwendet. Der letztgenannte Begriff gibt es am besten wieder.

Nun lasst uns in den Untergang eintauchen.

Zur Einstimmung habe ich ein paar Zitate zusammengefasst:

Wenn die Realität des Todes in den Hintergrund unseres Bewusstseins rückt, tauchen schnell andere Probleme auf, die die Freude rauben und die Lücke füllen.

Bedenke, dass du sterben wirst.

Bedenke, dass du ein Mensch bist.

Sieh dich um und bedenke, dass auch du nur ein Mensch bist.

"Memento mori" ist ein Aufruf, sich trotz aller Erfolge und Leistungen nicht überheblich zu verhalten, sondern immer die eigenen Grenzen im Blick zu behalten. Die Erfolge und Leistungen der Menschheit ziehen sich wie ein roter Faden seit der Antike bis zur Neuzeit durch unsere Gesellschaft. Sie waren auch immer mit Ängsten verbunden:

  • Der Arbeiter hatte Angst vor der Dampfmaschine
  • Der Kutscher hatte Angst vor dem Automobil
  • Die Schreibkraft hatte Angst vor der Spracherkennung
  • Der Schachspieler hatte Angst vor dem Schachcomputer
  • Der Redakteur hatte Angst vor GPT3
  • Die Künstlerin hatte Angst vor DALL-E2

In der Vergangenheit haben sich die meisten Ängste als unbegründet erwiesen. Durch den Wegfall des Alten gab es neue Chancen und Berufe durch das Neue. Gerade in der vorindustriellen- und industriellen Zeit, war die Verbesserung leicht nachvollziehbar. Lieber auf dem Traktor sitzen, als den Pflug selber ziehen. In einer Dienstleistungsgesellschaft sind die Vorteile schwerer zu verstehen. Wenn die Bankangestellte durch den Bankautomaten ersetzt wird, ist keine Erleichterung für die Betroffene ersichtlich, sondern lediglich die Chance auf eine Umorientierung hin zu einem höherwertigen Job.

Mittlerweile befinden wir uns in einer Wissensgesellschaft. Es geht jetzt nicht mehr um das Wegrationalisieren von Arbeiten im Dienstleistungssektor, sondern um den Ersatz menschlicher kognitiver Fähigkeiten. Es geht nicht mehr um das Handeln, sondern um das Denken. Ein Meilenstein wurde im Jahr 1997 erreicht, als der Schachcomputer Deep Blue einen ganzen Wettkampf unter Turnierbedingungen gegen den Schachweltmeister Kasparow gewann. Dieses Ereignis ist deshalb bemerkenswert, weil das Denken und nicht das Handeln von einer Maschine geschlagen wurde.

Die Einschätzung der Menschheit als "Krone der Schöpfung" basiert auf der kognitiven, emotionalen und künstlerischen Überlegenheit gegenüber allem anderen. Seit den Fortschritten bei KNN in den letzten 20 Jahren, fällt diese letzte Bastion menschlichen Selbstverständnis. Überzeugende Beispiele sehen wir in den letzten Jahren zuhauf:

  • OpenAI's GPT3 schreibt überzeugende Zeitungsartikel auf der Basis weniger Stichwörter
  • OpenAI's DALL-E2 generiert künstlerisch ansprechende Bilder aus einer Beschreibung

Hier ist ein Beispiel: "A baroque painting of an astronaut in the ocean" führt zu diesen Ergebnissen:

Oder wie wäre es mit einem Podcast, in dem Joe Rogan ein Interview mit Steve Jobs führt; komplett KNN generiert:

Nun kann man sich fragen, ob die generierten Bilder als Kunst zu bezeichnen sind, ob jemand einen künstlichen Nachrichtenartikel lesen möchte, oder ob man ein Interview hören möchte, das so nie stattgefunden hat. Ein letztes Beispiel habe ich noch: Google Imagen generiert Video-Clips aus einer Textvorgabe: "Wooden figurine surfing on a surfboard in space".

Was macht das mit uns und welche Konsequenzen sollen wir daraus ziehen?

  • Wir können die Echtheit von Texten, Bildern, Gemälden, Videos, Podcasts, Musik nicht mehr überprüfen.
  • Damit verlieren wir das Vertrauen und den Glauben an alles, was wir nicht unmittelbar (kein Internet) sehen und anfassen können.
  • Geistige und künstlerische Werke werden wertlos, bzw. zweifelhaft, weil ihr Ursprung und die Intention dahinter unklar sind.

Wie gehen wir damit um und welche Konsequenzen können wir ergreifen? Verbote haben noch nie geholfen, bzw. werden von der Geilheit der Leute und den wirtschaftlichen Interessen übersteuert. Ich würde zumindest für eine Attributierung stimmen. Erst kürzlich habe ich mit Lioh gescherzt, ob man die Artikel und die Podcasts bei GNU/Linux.ch mit diesem Label auszeichnen soll:

Memento mori - bedenke, dass Du ein Mensch bist.

Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Memento_mori

Tags

Künstliche Intelligenz, Souveränität, Selbstbewusstsein, Kunst, Mensch

Goetz
Geschrieben von Goetz am 28. Oktober 2022 um 17:24

Ein toller Text, ABER:

KNNs können nichts "erschaffen" so wie du dir das bei der Künstlerin, Schriftsteller oder Musikerin vorstellst. Sie reproduzieren durch eine Permutation der Eingaben das Gelernte. Blumig gesagt ist das ein toter Geist in einer Flasche. Ich kann unendliche Bilder im Stile von Van Gogh produzieren, die alle seinem Stil, seiner Pinselführung uns seiner Farbwahl entsprechen. Vielleicht ist man auch irgendwann in der Lage, dass man nicht mehr fähig ist die Bilder vom Original zu unterscheiden (das was du als Abstraktion bezeichnest). Aber selbst dann ist der künstliche Künstler in einer Welt der Stagnation gefangen. Weder kann sich eine KNN weiter entwickeln noch neues, nie dagewesenes, entwickeln. Die Grenzen werden durch einen Menschen zum Zeitpunkt X definiert. Danach bestimmt immer der Mensch wie es weiter geht, nicht die Maschine.

Wie werde ich das machen? Ich werde das Neue umarmen und mich weiter entwickeln. Sollte das KNN besser malen als ich, werde ich entscheiden wie das KNN malt. Sollte das KNN besser schreiben als ich, werde ich entscheiden über welche Themen, in welchem Stil und in welcher Form es schreibt. Sollte das KNN besser Musik machen, werden ich entscheiden wie es die machen soll.

Aber am Schluss bin ich Mensch. Ich kann mich immer noch für meine Fehler entscheiden. Für meine Unzulänglichkeiten, denn ich kann mich weiterentwickeln. Der künstliche Kollege nicht.

Ralf Hersel
Geschrieben von Ralf Hersel am 28. Oktober 2022 um 18:44

Wenn man die KI auf KNNs beschränkt, hast du recht. Das ist aber nur die aktuelle Limbostange. Dabei beschränkt sich die explorative Kreativität auf das Imitieren von Bekanntem. Es gibt jedoch eine Entwicklung hin zu transformativer Kreativität. Diese ermöglicht es zum Beispiel den Stil aus sich heraus zu wechseln, was beim Imitieren nicht der Fall ist. Das wird entweder durch die Kombination von KNNs mit regelbasierten Systemen oder durch Counter-KNNs erreicht, die das erste KNN herausfordern. Beim menschlichen Künstler wäre das die Konfrontation mit der Umwelt und anderen Künstlern.

Goetz
Geschrieben von Goetz am 28. Oktober 2022 um 19:40

Selbst dann ist das keine Kreativität. Wenn man das auf den menschlichen Künstler bezieht würde ich man sagen, dass dieser deren Schule X und Y folgt. Ein Künstler entwickelt daraus eine eigenen Stil, eine KNN kann das nicht. Sie wird immer Regelbasiert aus verschiedenen Stilen eine Collage zusammenstellen. Die Übergänge können feingranular sein, so fein, dass man es als eigenen unabhängigen Stil sehen kann. Aber das ist dann nichts neues. Es ist nur eine Ebene der Abstraktion weiter.

Ralf Hersel
Geschrieben von Ralf Hersel am 28. Oktober 2022 um 20:18

Ich argumentiere nun auf einer anderen Ebene: Die Menschheit hat die technische Singularität (die Limbostange) seit Jahrzehnten immer höher gelegt, weil sie den Verlust ihrer Eigenständigkeit nicht aufgeben will. Sie hat ein grosses Problem damit, sich von etwas Anderem abschaffen zu lassen, zumal sie es selbst erfunden hat (die Geister, die ich rief).

Und nein, eine KI (was mehr als ein KNN ist) ist nicht auf Regeln, Muster oder Trainingsinhalte beschränkt. Vielleicht zurzeit noch, aber nicht mehr lange. Es gibt keinen theoretischen Grund dafür, warum das so sein sollte. Es ist nur die Hoffnung der Menschen, dass es nicht so weit kommen soll/darf.

Die Beweisführung dafür ist ganz einfach: wenn sich ein Mensch entwickeln konnte, kann sich auch eine Maschine entwickeln, die dem Menschen in jeder Beziehung überlegen ist. Diese muss noch nicht einmal von Menschen entwickelt werden; das schafft die Maschine bald alleine.

Menschen haben ein Problem damit, die nahende Singularität zu akzeptieren. Interessant finde ich, dass fast niemand dagegen vorgeht. Im Gegenteil, man fördert das Abrutschen in die eigene Bedeutungslosigkeit.

kamome
Geschrieben von kamome am 30. Oktober 2022 um 22:44

Zudem stellt sich doch die Frage (bisher wohl nicht wirklich beantwortbar), ob wir eine Kreativität jenseits der physischen Ebene haben – wenn all meine Kreativität nur auf das Zusammenspiel für mich zwar nicht erkennbarer aber doch vollkommen vorherbestimmter äußerlicher und innerlicher Impulse zurückzuführen ist, dann habe ich ja auch keine „echte“ Kreativität, die gäbe es dann nur im Meta-Physischen. Ich wäre also nur ein „NNN“ („Natürliches …“), das das nicht selbst erkennt (oder doch) ;)

Ralf Hersel
Geschrieben von Ralf Hersel am 31. Oktober 2022 um 22:30

Du bringst das auf den Punkt. Ich teile deine Ansicht. Entweder man bleibt bescheiden und akzeptiert den Menschen im Rahmen der momentanen wissenschaftlichen Erkenntnis; dann ist der Mensch eine lernende biologische Maschine. Oder man schweift in Religion oder Metaphysik ab und überhöht sein Dasein mit dem Argument des göttlichen Funkens.