Zum Wochenende: Nichts zu verbergen?

  Ralf Hersel   Lesezeit: 8 Minuten  🗪 3 Kommentare

Wie ist die Aussage: "Wenn du nichts zu verbergen hast, hast du auch nicht zu befürchten" zu bewerten?

zum wochenende: nichts zu verbergen?

In einem Gastbeitrag hat Leena Simon bei Mike Kuketz Mitte Dezember einen ausführlichen Blog-Post zum Thema "Nichts zu verbergen? Ein moderner Mythos und 12 Argumente dagegen" geschrieben. Dabei handelt es sich um einen Auszug aus ihrem Buch Digitale Mündigkeit. Ich schreibe darüber, weil ich die aufgeführten 12 Argument für notwendig und stimmig halte. Insbesondere für Menschen, die Leenas Buch nie lesen werden.

Was mir im Auszug fehlt, ist die Begründung, warum Menschen sagen, dass sie 'nichts zu verbergen haben'. Sowohl der Titel des erwähnten Gastbeitrags, als auch meiner, sind verkürzt. Die eigentliche Aussage lautet: "Wenn Sie nichts zu verbergen haben, haben Sie auch nichts zu befürchten." Ursprünglich stammt es aus Henry James Roman von 1888 "The Reverberator":

Wenn diese Leute schlimme Dinge getan hatten, sollten sie sich schämen und er konnte sie nicht bemitleiden, und wenn sie es nicht getan hatten, gab es keinen Grund, sich darüber aufzuregen, dass andere Leute davon wussten.

Später, im Jahr 1917 beschreibt Upton Sinclair ein ähnliches Argument im Roman "The Profits of Religion":

Nicht nur meine eigene Post wurde geöffnet, sondern auch die aller meiner Verwandten und Freunde, die an so weit voneinander entfernten Orten wie Kalifornien und Florida wohnten. Ich erinnere mich an das freundliche Lächeln eines Regierungsbeamten, bei dem ich mich über diese Angelegenheit beschwerte: "Wenn Sie nichts zu verbergen haben, haben Sie auch nichts zu befürchten."

Stark gekürzt, möchte ich Leena Simons Argument hier wiederholen. Es lohnt sich, diese in voller Länge zu lesen.

  1. Es ist falsch: Wir alle haben etwas zu verbergen, z. B. unsere Krankheiten, den Lohnzettel, die Liebesbriefe, usw.
  2. Es ist unreflektiert: Jemand, der alles über uns weiss, kann uns leicht erpressen oder unsere Identität annehmen.
  3. Es vergisst gesellschaftlichen Wandel: Was heute gesellschaftlich akzeptiert ist, könnte uns schon morgen in Schwierigkeiten bringen.
  4. Es ist geschichtsvergessen: Denn es lässt die Folgen radikaler Regierungswechsel ausser Acht.
  5. Es ist unlogisch: Es impliziert: Wenn Du etwas zu verbergen hast, hast Du etwas Falsches getan, das man jetzt verheimlichen muss. Das ist ein weitverbreiteter logischer Fehlschluss mit dem Namen »Inversionsfehler«.
  6. Es stigmatisiert: Denn es vermittelt, dass man sich einer Norm unterwerfen muss, um toleriert zu werden.
  7. Es ist unsolidarisch: Je mehr Menschen glauben, dass sie nichts zu verbergen hätten, desto verdächtiger wird es, überhaupt Geheimnisse zu haben.
  8. Es ist naiv: Aus vielen verborgenen Daten konstruieren Unternehmen zu Werbezwecken Profile, um Dein Verhalten vorauszusagen und zu manipulieren.
  9. Es verhindert Widerstand: Wer sein ganzes Leben offenlegt und sich damit erpressbar und manipulierbar macht, wird es später schwer haben, sich gegen undemokratische oder unmenschliche Autoritäten zu wehren.
  10. Es ist ignorant: Gerade um den vielen unterschiedlichen Rollen im Alltag gerecht zu werden, müssen wir selbst entscheiden, wer was über uns erfährt.
  11. Es ist demokratiefeindlich: Ohne Geheimnisse ist keine freie Meinungsbildung möglich (Stichwort: Wahlkabine).
  12. Es ist privilegiert: Menschen, die befürchten müssen, wegen ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer Religion oder ihrer sexuellen Präferenzen angegriffen zu werden, können diesen Satz vielleicht nicht so frei heraus aussprechen.

Ich meine, dass der Satz "Ich habe nichts zu verbergen" eine Ausprägung des gesellschaftlichen Konformismus ist, den der aufstrebende Mittelstand in den Nachkriegsjahren des Wirtschaftswunders als Siegel der Selbstbestätigung stolz auf der Brust getragen hat. Die heute verwendete Aussage hat nichts mit den oben genannten Ursprüngen zu tun. Sie ist ein Nachhall des Selbstverständnisses der Generation unserer Eltern, bzw. Grosseltern. Und genau darin liegt die Krux. Wer sagt, dass er nichts zu verbergen habe, sagt das aus voller Überzeugung und sieht es als positives Attribut seiner Persönlichkeit. Es ist ein Ausdruck der eigenen Anstrengungen: "Mein Haus, mein Pferd, mein Auto". Leena Simon berücksichtigt das im dritten Argument, in dem sie über Pipi Langstrumpf und den Südsee-König schreibt. In der heutigen Diskussion wird oft die Zeitperspektive ausgeblendet. Dreissig Jahre später werden euch die Kinder für eure heutigen Ansichten verdammen.

Ich habe meine Mutter gefragt, was sie zur Aussage meint: "Wenn du nichts zu verbergen hast, hast du auch nichts zu befürchten". Nach einer Rückfrage, ob ich sie damit persönlich meine, und meiner Verneinung, sagte sie:

"Diese Aussage war mir bekannt und da ist auch etwas Wahres dran."

(Unerwarteterweise) stimme ich ihr zu, weil die Aussage stimmt, wenn man diese von ausserhalb der Blase betrachtet. Für mich hat dieser Gastbeitrag einen Erkenntnisgewinn gebracht und mich ein Stück weit aus dem Framing geführt.

Meine These ist, dass eine Mehrheit der Bevölkerung genau so antworten würde, weil sie die Aussage auf verbotene Handlung bezieht. Christlich interpretiert, heisst das: "Wenn du nicht gegen die Zehn Gebote verstösst, hast du auch nichts zu befürchten." Strafrechtlich interpretiert, heisst das: "Wenn du nicht gegen das Recht verstösst, hast du auch nichts zu befürchten." Gesellschaftlich interpretiert, heisst das: "Wenn du nicht gegen die geltenden Sitten und Gebräuche verstösst, ..." Da frage ich mich, ob wir ein Bienenvolk oder ein Ameisenhaufen sind. Kommt niemand auf die Idee, diese Aussage aus der persönlichen Perspektive zu betrachten?

Lange Rede, kurzer Sinn. Neben der ausführlichen Betrachtung im Gastbeitrag von Leena Simon empfehle ich jeder und jedem sich die entsprechenden Artikel der Gesetze durchzulesen, inklusive der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte":

Warum empfehle ich das? Weil eine objektivere und breitere Sichtweise, die Gedanken öffnet und eingefahrene Denkmuster zerstreut. Leena Simons Argumente im Gastbeitrag sind notwendig, aber nicht hinreichend.

Es ist doch nicht schwer, aus der Gesetzgebung, die unsere Gesellschaft ordnet, herauszulesen, dass "Nichts zu verbergen = nichts zu befürchten" eine zutiefst faschistische Drohung ist, die keinem Gesetz standhält. Was ich befürchte ist, dass die faschistischen Regierungen, die in Europa in den nächsten Jahren die Oberhand gewinnen werden, euch genau diese Frage stellen werden: "Bist du für uns, oder gegen uns?"

Nachdem ich diesen Artikel mehrmals überarbeitet habe, komme ich zu einer anderen Schlussfolgerung. Den vorherigen Absatz habe ich gestrichen, weil ich ihn für zu einseitig halte. Ich verstehe alle, die die Aussage für richtig halten, weil sie diese in einem anderen Kontext sehen und das Normative über ihre Persönlichkeit stellen (Ameisenvolk). Allen, denen der Satz zu leicht über die Lippen geht, empfehle ich, die 12 Argumente zu lesen. Allen, die sich aufregen, weil jemand den Satz gesagt hat, empfehle ich zu überlegen, warum dieser Satz gesagt wird.

P.S.: Vielen Dank an Fabian für die ausführliche Rezension dieses Beitrags.

Bildquelle: https://sir.chamallow.com/wp-content/uploads/2018/11/nothing-to-hide.png?is-pending-load=1

Quellen:
https://www.kuketz-blog.de/nichts-zu-verbergen-ein-moderner-mythos-und-12-argumente-dagegen/
https://de.wikipedia.org/wiki/Nichts-zu-verbergen-Argument

Tags

Nichts zu verbergen, Verfassung, Grundrechte, Leena Simon, Recht

Der Linuxer
Geschrieben von Der Linuxer am 29. Dezember 2023 um 19:47

Ein Blick nach China kann sicher auch so manchen überzeugen. Dort gilt ja das Motto: „Wenn du nichts zu verbergen hast, dann stört es dich sicher auch nicht, wenn wir deinen ganzen Alltag per Kamera überwachen.“

Robert
Geschrieben von Robert am 29. Dezember 2023 um 22:53

Geheimnisse sind völlig normal, jeder Mensch hat welche! Und die IMHO treffsichersten Gegenargumente an die "Habe-nichts-zu-verbergen-Menschen" sind:

Wieso hast Du Vorhänge oder Jalousien vor den Fenstern hängen? Weshalb schliesst du überhaupt deine Wohnungstür ab? Und warum bleibt die Klotür auf der Toilette nicht offen? Es macht dir nichts aus, wenn der ganze Wohnblock deine Krankheitshistorie kennt? Wieso hängst du nicht einfach eine Liste deiner Krankheiten öffentlich aus? Warum veröffentlichst du nicht deine Bankkarten-PIN oder eines deiner Passwörter? etc. etc.

Da wir uns derzeitig schon in einer Art von digitalem Überwachungskapitalismus befinden (und das sage nicht ich, sondern andere) https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cberwachungskapitalismus verändert das zwangsläufig - vollkommen egal ob gewollt oder ungewollt, ob bewusst oder unbewusst - unser eigenes Verhalten. Da wird man ziemlich schnell auch zur Biene / Ameise (um bei der im Artikel benutzen Terminologie zu bleiben)!

Und DAS kann Angst machen.

Sam
Geschrieben von Sam am 5. Januar 2024 um 14:19

Danke für den Artikel, Ralf. Ein wichtiges Thema! Mir gefällt in diesem Zusammenhang auch der Film NOTHING TO HIDE von Marc Meil­las­soux (2017). Kann man bei vimeo schauen oder trackerfrei auf meiner Website ;) https://freisatz.ch/2018/05/05/nothing-to-hide/ Cheers!