Zum Wochenende: The Good, the Bad and the Elitist?

  Fabian Schaar   Lesezeit: 6 Minuten  🗪 9 Kommentare

Freie Software: Zwischen Selbstbestimmung, Nachhaltigkeit und elitärem Verhalten.

zum wochenende: the good, the bad and the elitist?

Hinweis: Das ist ein Meinungsbeitrag.

GNU/Linux-Distributionen scheinen sich nicht nur auf technische Fragen und Hintergründe reduzieren zu lassen, es scheint nicht nur auf den Paketmanager hier, das grafische Werkzeug da, den Installationsvorgang dort anzukommen: Immer wieder hört man, gerade, wenn jemand nach einer neuen Distribution sucht, die einen oder anderen Argumente, die weder mit Technik noch mit Lizenzfragen zu tun haben.

Manchmal scheint es auch darum zu gehen, wie eine Distribution öffentlich wahrgenommen wird. Du nutzt Linux Mint? Ewiger Anfänger. Du nutzt Ubuntu? Werbe-Opfer von Canonical! Du nutzt Slackware oder Debian? Früher war alles besser, nicht wahr? Fedora? Du Fortschritts-geiler Red Hat-Apologet!

Die Wahl einer Distribution wird nicht selten auch zu einer persönlichen Entscheidung, oder zumindest dazu gemacht. In der Vergangenheit ist mir das hauptsächlich bei solchen Distros aufgefallen, die sich explizit an „Fortgeschrittene“ richten. „I don’t use Arch btw“ hört man selten im Internet.

Das Bild, welches mit einer Distribution assoziiert wird, scheinen sich heute viele gerne in ihren Lebenslauf schreiben zu wollen. Die eigentlich technischen Unterschiede zwischen den Ansprüchen, die Distributionen an ihre Nutzer stellen, scheinen heute schnell zu einer Art sozialen Rangfolge unter den Nutzern zu werden.

Ich möchte nicht sagen, dass das die Norm wäre, und doch frage ich mich, warum es noch so kleinste Minderheiten an Nutzern geben kann, die hinter einer solchen Einteilung tatsächlich unironisch stehen können. Ist es nicht traurig, wenn die eigenen Erlebnisse in der GNU/Linux-Welt dadurch getrübt werden, dass gewisse Internet-Foren ständig davon überzeugen möchten, dass sie die selbst erklärte „Master-Race“ unter den Linux-Nutzern wären?

Manchmal kommt es mir so vor, als würde der Abstand zwischen denjenigen, die das Nerd-Image von GNU und Linux verabscheuen und denen, die das für ihr Selbstbewusstsein benötigen, immer weiter auseinanderklaffen. Doch ist diese Annahme wirklich gerechtfertigt? Ist das wirklich eine Realität, mit der sich die Gemeinschaft auseinandersetzen sollte oder zumindest könnte? Oder ist das doch wieder der Schein, den nur eine kleine aber laute Minderheit hervorgerufen hat?

Die Debatten rund um unser geliebtes freies Betriebssystem scheinen stark von nicht technischen Fragen geprägt zu sein – und ich bin der Letzte, der das in Grund und Boden kritisieren wollen würde: Philosophische Betrachtungen machen in der Linux-Welt meiner Meinung nach immer dann Sinn, wenn sie sich auch mit technischen Antworten lösen lassen.

GNU/Linux und freie Software im Allgemeinen bieten meiner Ansicht nach ein Potenzial, das wir auch dann nicht unterschätzen sollten, wenn das „Jahr des Linux-Desktops“ auf ewig ein ferner Traum bleibt.

Freie Software ermöglicht, Nutzerinnen und Nutzern die Kontrolle über ihr Leben im Zeitalter der Digitalisierung zurückzugeben, nicht nur da, wo Google, Facebook und ChatGPT die digitale Selbstbestimmung infrage stellen. Freie Software ermöglicht, sich selbst in einer Gemeinschaft zu organisieren und überwindet ganz nebenbei den Dissens, der zwischen den Entwicklern proprietärer Programme und deren Nutzerinnen entsteht.

Doch genau da, wo dieses Potenzial freier Software beginnt, fängt auch die Gefahr des Elitismus an: Einer hat Arch installiert, also ist er jetzt der überkrasse Herr über seinen PC. Ein anderer nutzt Gentoo, also ist er jetzt der unangefochtene Meister der Stromrechnung.

Mal ganz nebenbei: Ich schreibe diesen Text hier gerade von einer Linux Mint-Installation aus und bin sehr glücklich, weil 99,5 Prozent der von mir genutzten Pakete freie Software sind, in einer unfassbar komfortablen Arbeitsumgebung.

Ist es nicht an der Zeit, klar gegen das elitäre Gehabe mancher Nutzer vorzugehen? Ist es nicht an der Zeit, das wahre Potenzial freier Software auszunutzen, auch wenn momentan nur ein Bruchteil der Nutzerinnen in den Genuss eines freien Betriebssystems auf dem Desktop kommt?

Ein Beispiel: Warum sollte Microsoft daran interessiert sein, Windows barrierefreier zu gestalten? Können wir wirklich darauf vertrauen, dass ein Konzern, der grundsätzlich von Angebot und Nachfrage getrieben und getragen wird, in Zukunft auch Nutzer mit körperlichen oder geistigen Behinderungen berücksichtigt? Nein, das können wir meiner Ansicht nach nicht.

Nur die Gemeinschaft freier Software kann perspektivisch nachhaltige und Anwender-gerechte Software produzieren, nicht zuletzt, weil hier auch Nutzerinnen und Nutzer schnell zu Entwicklerinnen und Entwicklern werden können. GNU/Linux ist Nische-genug, um jede Nische bedienen zu können, ohne darauf angewiesen zu sein, die Marktmacht an sich reißen oder halten zu können.

Sicherlich gibt es kommerzielle Interessen, die die Entwicklung freier Software beeinflussen, nicht immer ins Negative. Und doch kann der Fakt, dass das nicht die Norm sein muss, als Vorteil betrachtet werden.

Um auf die ursprüngliche Frage zurückzukommen: Nein, elitäre Nutzer sind nicht die Norm, ein Meme ist nicht ganz Linux, nein die Gemeinschaft besteht nicht nur aus wahnsinnig talentierten Entwicklern oder Bändigern der Rolling-Releases. Natürlich kann ich das nicht statistisch nachweisen oder überzeugend ausdifferenzieren – aber vielleicht reicht es auch, einen Blick auf die bunt gemischten Chatgruppen von GNU/Linux.ch zu werfen.

Manchmal habe ich das Gefühl, dass es sinnvoll oder gar notwendig wäre, die Diskussionen rund um freie Software auf eine technische Grundlage zurückzuholen. Aber andererseits frage ich mich, ob das überhaupt möglich wäre. Was ist zum Beispiel mit technischen Fragen, die politische Dimensionen annehmen? Systemd lässt grüßen.

Linux Mint war meine erste Linux-Distribution. Doch entgegen der Behauptung, das wäre eine „Anfägerdistro“ kann ich bestätigen, dass Mint auch für alles andere gut zuhaben und handhaben ist. Um eine Bash zu nutzen, muss meine /etc/os-release nicht Arch ausgeben. Um freie Software nutzen zu können, müssen wir nicht in Anfänger, Fortgeschrittene und Zsh-Warriors unterscheiden, oder?

Ich würde es schade finden, wenn Desktop-GNU/Linux ein Ding der Nerd-Blase bleibt. Weil ich glaube, dass freie Software die einzige zukunftsfähige Form der Softwareentwicklung bleibt – auch in Zeiten der Cloud, die momentan eher zu einer Gewitterwolke zu werden scheint.

Meiner Wahrnehmung nach versucht freie Software einerseits, auf technische Fragen eine ethische Antwort zu geben, andererseits werden dabei aber auch technische Fragen einem breiteren Publikum zugänglich.

In diesem Sinne: Beste Grüße aus Linux Mint 21.1, euer ewiger Anfänger. ;)

Bild: "Konzeptuelle Karte freier Software", siehe Lizenzverweis unten rechts auf der Karte, ferner: Verteilung über Wikimedia Commons: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported

Tags

Freie Gesellschaft, Distributionen, Freie Software, Elitarismus

Josef Schippers
Geschrieben von Josef Schippers am 3. Februar 2023 um 17:53

Moin Fabian,

und danke für das Verteidigen des absoluten Dilettantismus, und dies meine ich im ursprünglichen Sinne des Dilettantentums, gegenüber einem Elitarismus bei der Nutzung von freier Software. Ist mir doch auf Deutsch scheißegal, wie die Distro heißt und welchen Score die auf irgendeiner List hat. Insbesondere lassen sich auf diese Art und Weise, die du konkretisiert hast, kaum Menschen dazu gewinnen, in diese Welt reinzuschauen und eine Alternative kennenzulernen, die ihnen bisher von propietären Systemen aberzogen wurde.

Liebe Grüße

Josef Schippers

Wolfgang Romey
Geschrieben von Wolfgang Romey am 3. Februar 2023 um 18:13

Ich nutze KDE-Neon, es gibt nichts besseres! :-) - Im Laufe der vielen Jahre, in denen ich schon Freie Software nutze, habe ich festgestellt, daß intensive GNU/Linux-Nutzer teilweise den Eindruck erwecken, sie wollen gar nicht, daß sich die Nutzung von GNU/Linux verbreitet. Dann wäre man ja nicht mehr elitär.

Beim Linuxtreff in Mülheim an der Ruhr möchten wir Leute schon dadurch einladen, daß wir Deutsch und kein Denglisch sprechen und die Leute mit Ihren Fragen und Bedürfnissen ernst nehmen. Wir wollen den Leuten ermöglichen, nach möglichst kurzer Zeit ohne unsere Unterstützung aus zu kommen. Wir bieten übrigens Mint zur Installation an.

Martin Lorenz
Geschrieben von Martin Lorenz am 3. Februar 2023 um 19:20

Servus, vielen Dank für diesen interessanten Beitrag. Ich bin immer wieder begeistert, dass es für jeden Nutzer und jede Nutzerin, mit viel oder kaum technischen Vorwissen, eine Distribution. Ich wünsche allen ein schönes Wochenende. Viele Grüße von einem "ewig gestrigen" Debian Nutzer 😉

The_Raven
Geschrieben von The_Raven am 4. Februar 2023 um 08:38

Ich nutze das zu meinem Vorteil: Immer wenn mein Chef mit Arbeit kommt antworte ich ihm "Ich bin halt nur ein LinuxMint-Anfänger 🤷". Sobald er weg ist öffne ich das Terminal, arbeite in Ruhe auf meinen Debian-Servern weiter und schlürfe dabei genüsslich meinen Kaffee 🤫😜 Spass bei Seite: Es ist leider schon so, dass man die Leute nach ihrer Distro oder ihrem Desktop einsortiert. Natürlich mit allen Vorurteilen und Klisches. 🙄 Allerdings denke ich das dies nur wenige, dafür sehr laute Personen sind. Darum erscheint es einem dann als viele.

kein
Geschrieben von kein am 4. Februar 2023 um 09:17

Danke, hat mich gefreut diesen Artikel zum Morgen-Caffee zu lesen.... lehrnenderänfänger seit 86

Klaus
Geschrieben von Klaus am 4. Februar 2023 um 13:30

Ich könnte mir vorstellen, dass die Frage, welche Distribution man verwendet, den meisten Anwendern egal ist. Läuft die Kiste zuverlässig, ist doch alles wie es sein soll. Technisch wenigt interessierte Anwender erwarten das gleiche Verhalten wie von einem Lichtschalter. Lässt sich an- und ausschalten und zwar jedesmal mit demselben erwarteten Ergebnis. Was die Anwender wirklich interessiert, ist, dass ihre vertrauten Anwendung laufen. Im wesentlichen sind das doch nur Browser, Email, Textverarbeitung. Bei manchen auch noch Rechenblatt, Präsentationsprogramm, ... Anwendungen eben. Es muss anklickbar sein. Auf welchem Betriebssystem die vertrauten Anwendung laufen ist total unwichtig für Anwender, eben nur dass sie laufen. Wenn wir als Linux Community wollen, dass freie Software die Norm wird, dann müssen wir die Anwender an freie Anwendungen gewöhnen. Das Schlüsselwort hier ist: GEWÖHNEN Solange die allermeisten Anwender auf proprietären Anwendungen trainiert werden, ist das aussichtslos. Funktioniert doch auch. Warum sollten diese Anwender auf eine Plattform wechseln, mit deren Anwendungen sie nicht vertraut sind? Ich behaupte, dass es kaum noch Aufgaben gibt, wenn überhaupt noch, die diese Anwender nicht ebenso gut mit freien Anwendungen erledigen können. Ob die Anwendung dann auf einem geschlossenen oder freien System läuft, wird den meisten gar nicht auffallen. Dieselben Anwender verwenden doch sowieso alle schon Linux und Unix mit Android und Apple und kommen damit prima klar.

Peter
Geschrieben von Peter am 4. Februar 2023 um 22:30

Aus meiner Erfahrung im Bekanntenkreis möchten die User ein möglichst einfaches Betriebssystem, das alle Probleme von selbst löst. Windows und Apple sind da "perfekt". Bisweilen sieht man da auch Dinge, gerade bei älteren Usern, die von einer erschreckenden Unkenntnis sprechen. Das sage gerade ich, der sich selbst als Anfänger bezeichnet! "Gleichgültigkeit" ist dafür der negative Begriff. Ich habe Open Suse und hatte eine unfreiwillig oder eben doch freiwillig steile Lernkurve, nach dem ich von Ubuntu weg bin. Was mich stört an der Vielfalt, ist ihre "gepflegte" Differenz. Ich habe bisweilen den Eindruck, Austausch ist nicht so üblich. Warum unterstützt man sich da nicht gegenseitig? Oder habe ich da einen völlig falschen Eindruck? Wenn Gnome bei Suse nicht so toll integriert sein sollte, oder auch Xfce, warum tauscht man sich nicht aus und unterstützt sich gegenseitig? Oder sitze ich da einem Vorurteil auf? Aber noch mal: wenn es kompliziert wird, steigt der "normale" Nutzer aus der Win-Welt rasch aus; da ist das Interesse an Gefrickel gleich null. In diesem Sinne also wie Klaus und wie Wolfgang in seinem 2. Absatz.

KlugerAnwender
Geschrieben von KlugerAnwender am 6. Februar 2023 um 14:38

Gentoo rulez! Seit fast 20 Jahren über 5 Mashinen läuft die installationen. Das soll mir mal ein Mint nachmachen.

Daher würde ich schon sagen, dass ein Gentoo besser ist.

Florian
Geschrieben von Florian am 10. Februar 2023 um 08:04

Vielen Dank für diesen Beitrag. Er spiegelt auch mein Verständnis von freier Software wieder.

Ich selbst nutze privat seit 2 Jahren Linux Mint. Beruflich muss ich weiter mit Windows arbeiten. Da ich 20 Jahre lang privat und beruflich nur mit Windows gearbeitet habe, ist der Umstieg für mich persönlich wie ein Neuanfang. Aber ein Neuanfang der ein unglaublich schönes Universum für mich aufzeigt :)