Zum Wochenende: Was kann Freie Software leisten, und was nicht?

  Ralf Hersel   Lesezeit: 7 Minuten  🗪 1 Kommentar

Ein Versuch der Klarstellung und Differenzierung zwischen 'Freier Software' und 'Freier Gesellschaft'.

zum wochenende: was kann freie software leisten, und was nicht?

Einige Reaktionen zu unserem Wort zum Sonntag am letzten Freitag haben Stirnrunzeln und Fragen aufgeworfen. Im Artikel wurden zwei Fragen gestellt: "Freie Software für Russland?" und "Soll die freie Lieferkette für autokratische Staaten unterbrochen werden?". Obwohl der Artikel meiner Meinung nach, die Bedeutung und Verantwortung von 'Freier Software' klar dargestellt, sowie über die Lieferkette differenziert hat, gab es mehr Fragen als Verständnis zu unserem Wochenend-Beitrag.

Deshalb gibt es heute einen Nachfolge-Artikel, der versucht, die Dinge einzuordnen und in das rechte Licht zu rücken. Ich möchte eine Unterscheidung zwischen 'Freier Software', 'Freier Gesellschaft', 'Freien Lizenzen' und der Lieferkette machen. Dies soll euch einen Kompass in schweren Zeiten bieten.

Selbstverständlich habe ich nicht die Weisheit für mich gepachtet und bin gerne bereit, mich dem Diskurs zu stellen und von einer besseren Argumentation überzeugen zu lassen.

Beginnen möchte ich mit einer Taxonomie:

  • Als Open Source wird Software bezeichnet, deren Quelltext öffentlich eingesehen, geändert und genutzt werden kann. Diese technische Definition bezieht sich lediglich auf die Offenlegung des Quell-Codes und hat keinerlei lizenzrechtliche oder gesellschaftliche Auswirkungen.
  • Freie Software hat eine breitere Wirkung als Open Source. Die GNU General Public License ist die lizenzrechtliche Grundlage des Begriffs 'Freie Software' und definiert die vier Freiheiten:

  • Der Begriff Freie Gesellschaft geht wiederum über 'Freie Software' hinaus, indem er die Grenzen des  Lizenz-Rahmens verlässt, um eine gesellschaftliche Bedeutung zu erreichen. Hier kommen Organisationen ins Spiel, wie die FSFE, die Digitalen Gesellschaften, Digital Courage oder der CCC, um nur einige zu nennen. Auch uns, GNU/Linux.ch zähle ich zu den Organisationen der 'Freien Gesellschaft'. Die Aufgabe dieser Organisationen ist es, freie Software in der Zivilgesellschaft zu fördern.

Habt ihr es gemerkt? Bisher war hier noch nicht von Politik, Diplomatie, Wirtschaft, Sanktionen oder Krieg die Rede. Um das klarzumachen, nenne ich hier einige Beispiele der möglichen, bzw. unmöglichen Einflussnahme:

  • Eine Entwicklerin von Open-Source-Software stellt ihren Quell-Code zur Verfügung. Und das war es, nicht mehr und nicht weniger. Hier muss man nicht mehr hineininterpretieren.
  • Ein Entwickler, der seine Freie Software unter eine entsprechende Lizenz stellt, hat sich etwas mehr Gedanken gemacht. Er unterstützt mit seinem Werk die Bedingungen der gewählten freien Lizenz. Falls es sich um eine Copyleft-Lizenz (wie die GPL) handelt, steht der Entwickler hinter den Freiheiten, die diese Lizenz der Gesellschaft einräumt.
  • Entwickler, die das Gen der freien Gesellschaft in sich tragen, möchten in der Regel eine Wirkung erzielen, die über das Technische und Lizenzrechtliche hinausreichen. Sie verfolgen eine Mission, um in der Bevölkerung ein Umdenken zu bewirken. Ein Beispiel unter vielen wäre das OpenStreetMap-Projekt.

Seht ihr es? Zwar sind wir auf der Ebene des gesellschaftlichen Einflusses angekommen, aber noch lange nicht bei Politik und Angriffskriegen. Einige Organisationen aus der 'Freien Gesellschaft' engagieren sich in Ausschüssen und politischen Gremien als beratende Teilnehmer. Sie treffen jedoch keine Entscheidungen.

Nun möchte ich einen Kommentar zum letzten Wochenend-Artikel zitieren (paraphrasiert):

Viele Personen in Russland stehen gerade vor der Wahl, ob sie 'Freie Software' oder staatliche Software/Plattformen verwenden sollen. Es würde gegen unsere Werte verstossen, den Menschen die Möglichkeit zu nehmen, auch Zensur- und Spionage-frei zu kommunizieren und zu arbeiten. Die grossen Internet-Firmen fliehen zurzeit alle. Software, mit der alle arbeiten, ist nicht mehr verfügbar. Wieso jetzt auch noch Alternativen entziehen? Die Regierung interessiert es nicht, ob die Bevölkerung jetzt Zugriff auf 'Freie Software' hat oder nicht. Aber wenn sie (AdR.: die Regierung) z.B. Linux für die Entwicklung von Atomwaffen einsetzen wollen, wird eine Lizenzklausel in einem Land, in dem staatliche Einrichtungen oft mit gestohlenen Microsoft-Window Lizenzen arbeiten, nicht viel an dem Vorhaben ändern.

War das Ziel freier Software nicht immer auch, Menschen in Autokratien mehr Freiheit zu ermöglichen?

Ich schätze den Autor dieses Kommentars und verstehe seine Ansicht von ganzem Herzen. Gerade deshalb möchte ich den Kommentar in seine Bestandteile zerlegen und darauf antworten.

  • Gegen welche Werte verstösst es? Es verstösst gegen die Werte einer humanistisch-demokratischen und liberal orientierten westlichen Gesellschaft. Es verstösst aber anscheinend nicht gegen die Werte der globalen Bevölkerung. Andere Völker haben andere Wertvorstellungen. Fragt bitte einmal eine Chinesin aus der Mittelschicht, wie sie die Werte: Freiheit und offene Gesellschaft gegenüber Sicherheit und Wohlstand gewichtet.
  • Ja, die Firmen verschwinden und damit auch Software, mit der alle arbeiten. Bei diesen Firmen handelt es sich in erster Linie, um kommerziell orientiere Unternehmen. Bisher habe ich noch von keiner freien Organisation gehört, die sich aus dem russischen Markt zurückzieht. Egal wer sich zurückzieht, es ist für die Unternehmen ein Abwägen zwischen Umsatz und Reputationsschaden; für manche wohl auch eine moralische Entscheidung. Dass dabei die Menschen die Leidtragenden sind, scheint zweitrangig zu sein. Das ist die Diskussion über die Wirksamkeit von Sanktionen, die wir hier nicht führen müssen.
  • Ich denke, dass keine Entwicklerin von Freier Software, Alternativen entziehen will. Hier kommt wieder die Lieferkette ins Spiel, die ich im letzten Wochenend-Artikel beschrieben habe. Es liegt nicht in der Macht des Open-Source-Entwicklers, ob seine Software am Ende der Lieferkette noch bei der Endanwenderin ankommt (F-Droid, GitHub, Repositories).
  • Eine Freie Lizenz kann und darf nicht darüber entscheiden, zu welchem Zweck die Software eingesetzt wird. Wenn Putin mit Freier Software seine Atomwaffen verbessern will, ist ihm das freigestellt. So schlimm das klingt; wenn freie Lizenzen den Einsatzzweck regulieren, sind es keine freien Lizenzen mehr. Freie Lizenzen dürfen in ihrer politischen und gesellschaftlichen Bedeutung auf keinen Fall überlastet werden.

Um es auf den Punkt zu bringen: Freie Software ist kein politisches Instrument. Freie Lizenzen sind keine Moral-Keulen, sondern Rechtsgüter. Eine Freie Gesellschaft jedoch, darf politisch und gesellschaftlich aufbegehren und muss relevant sein. Es ist wichtig zu differenzieren, um jedem freien Aspekt den Platz zuzuweisen, der ihm gebührt.

Wir dürfen in diesen Zeiten die Orientierung nicht verlieren, und müssen den Kompass festhalten.

Tags

Software, Freie, Gesellschaft, Lizenzen, Freier, Lieferkette, Wochenend, Kompass

Thomas Gutte
Geschrieben von Thomas Gutte am 18. März 2022 um 21:45

Dem kann ich mich so anschließen.