Zum Wochenende: Der GNU/Linux-Desktop in zehn Jahren

  Fabian Schaar   Lesezeit: 11 Minuten  🗪 7 Kommentare

GNU/Linux auf dem Desktop: Zwischen Zentralisierung, Modularität und Zersplitterung.

zum wochenende: der gnu/linux-desktop in zehn jahren

Hinweis: Das ist ein Meinungsartikel.

Für viele ist der GNU/Linux-Desktop ein Hobby, für manche eine Tagesbeschäftigung, für manche eine Nebensächlichkeit. Nicht ab zu streiten ist: Auch wenn der Linux-Desktop auf dem Softwaremarkt nur eine kleine Nische bedient, ist er stets und ständig in Bewegung: Anwendungsprogramme kommen und gehen, grafische Oberflächen werden neu- oder weiterentwickelt, Desktop-Distributionen stellen sich neu auf. Jeden Tag gibt es Nachrichten, die berichtenswert sind, Stunden lassen sich füllen mit Diskussionen zu den neuesten Versionen von Gnome oder KDE.

Der GNU/Linux-Desktop ist dabei auch sehr vielfältig: „Linux is all about Choice“ meinen viele, für einige wird das zu einem digitalen Lebensmotto. Freie Lizenzen machen Softwareentwicklung transparent und nachvollziehbar, sie senken aber auch die Einstiegshürde für Anfänger, sich an Projekten zu beteiligen. Einerseits garantiert das wichtige Nutzerrechte, zum Beispiel die Freiheiten, Software weiterzugeben und sie zu prüfen. Andererseits wird es aber auch für jeden und jede möglich, neue Projekte ins Leben zu rufen, mal basierend auf bereits bestehendem Code, mal nicht.

Anwender freier Software haben daher täglich die Wahl: Das fängt bei der Distributionssuche an, geht bei der Entscheidung für einen Texteditor weiter und hört bei der Auswahl der täglich genutzten Anwendungen noch lange nicht auf. Klar ist aber auch: Gerade weil freie Software so zugänglich ist, entwickelt sie sich ständig weiter.

Ein Beispiel? KDE und Gnome bestehen schon seit Dekaden und haben sich über die Jahre massiv verändert. Mal gibt es eine neue Hauptversion, mal ändert sich nur eine Versionsnummer. Mal wird ein bekanntes und beliebtes Bedienkonzept über den Haufen geworfen, mal geht alles so weiter, wie gewohnt. Der GNU/Linux-Desktop ist und bleibt, bis auf einige Ausnahmen sehr modular, freie Software funktioniert besonders gut im Zusammenspiel mit anderen freien Programmen, die bestenfalls offene Standards verwenden.

Doch genau hier ergibt sich ein Problem: Heute ist oft die Rede von in sich geschlossenen „Ökosystemen“, Programme sollen in sich funktionieren, in einem Gesamtpaket zusammenspielen. Eine grafische Oberfläche soll nicht zusammengewürfelt sondern wie aus einem Guss wirken. Hier wird oft nach Innovation gerufen: Gnome baut mit Libadwaita eine eigene Benutzerschnittstelle auf GTK4 auf und bricht mit Client-seitigen Fensterdekorationen mit etablierten Standards. KDE hebt sich mit seinem Kirigami-Framework ebenfalls immer weiter von der zu Grunde liegenden Entwicklung von Qt ab.

Die innovativen Ideen, die diese großen Projekte auf dem Linux-Desktop umsetzen wollen, scheinen es bei Nahe voraus zu setzen, mit Bestehendem zu brechen. So scheint keine neue Gnome-Version ohne Inkompatibilitäten mit Desktop-Themes oder Shell-Erweiterungen aus zu kommen: Hier zeigt sich die Schattenseite der Innovation.

Für große Projekte ist es sicherlich einfach, einen konsistenten Gesamteindruck aufrechtzuerhalten. Bleiben wir beim Gnome-Beispiel: Natürlich können die Gnome-Entwicklerinnen ihre Software weiterentwickeln wie sie wollen. Zu dem großen freien Desktop gehört immerhin auch eine ganze Stange an Projekt-eigenen Anwendungen. Auch KDE kann so progressiv sein wie es möchte, so lang die Entwickler der einzelnen Desktop-Komponenten an einem Strang ziehen.

Doch dort, wo Gnome und KDE von ihrer Projektgröße profitieren, leiden kleinere, unabhängige Projekte. Genau diese sind es aber, die die Modularität als Stärke des GNU/Linux-Desktops hochhalten. Xfce, Mate oder LXQt bringen wesentlich weniger eigene Anwendungen mit, wer solche Desktops nutzen möchte, ist de facto darauf angewiesen, auf Drittanbietersoftware zurückzugreifen.

In der Vergangenheit war das ja auch kein Problem: Ob GTK unter Gnome oder Xfce eingesetzt wurde, hat lange Zeit keinen Unterschied gemacht. Jetzt aber, in Zeiten in denen Gnome so gut wie täglich eigene Wege geht, driften die Desktops auseinander. Indem sich Gnome immer weiter in Projekt-eigenen Experimenten verliert und dabei den ein oder anderen Nutzer abschreckt, müssen sich auch die Nutzerinnen und Nutzer anderer GTK-basierter Arbeitsumgebungen Gedanken machen, wo sie denn bleiben.

Libadwaita kann als reines Gnome-Projekt angesehen werden. In Gnome selbst integrieren sich diese Anwendungen auch wunderbar. Unter Xfce und Mate sieht das dann schon anders aus: Anwendungen, die sich noch vor zwei Jahren problemlos unter Xfce hatten einsetzen lassen, wirken jetzt wie Fremdkörper im Gesamtbild.

Indem sich große Projekte immer mehr von allgemeinen Standards verabschieden, beeinträchtigen sie ungewollt kleinere Projekte: Wenn die Entwicklung des GNU/Linux-Desktops maßgeblich von großen Projekten bestimmt wird, kehrt sich die einstige Modularität in Fragmentierung um: Wer möchte schon Xfce benutzen, wenn neue Technologien so oder so nur in Gnome oder KDE implementiert werden?

Die Ironie des Ganzen: Als Gnome mit der Entwicklung von Libadwaita begonnen hat, klang die Idee dahinter eigentlich ganz gut: Anstatt sich in die Entwicklung von GTK einzumischen, wollte man mit Libadwaita eine eigene Idee in einem eigenen Rahmen einsetzen. Nicht nur das Gnome-Projekt nutzt GTK, nicht nur das Gnome-Projekt hat ein Interesse an einer kontinuierlichen Weiterentwicklung dieser Programmbibliotheken.

Diese Idee klang für mich nachvollziehbar und verständlich. Vergessen habe ich aber, dass kleinere Projekte nicht selten auch von Gnome abhängen: Als Xfce-Nutzer habe ich lange Zeit einige Gnome-Anwendungen benutzt. Ein Festplattenwerkzeug hier, eine Notizenverwaltung da: Gnome-Programme konnten lange sehr gut Xfce und Mate integriert werden. Mittlerweile überlege ich es mir doch zwei mal, ob ich ein Gnome-Programm wirklich in meinem Xfce-Desktop brauche.

Und die Unstimmigkeiten beziehen sich nicht nur auf visuelle Änderungen. Durch die strikten Regelungen der Gnome-Entwickler bei die Themen Nutzbarkeit und Nutzerführung ergeben sich oft Unklarheiten.

Eine klassische Menüleiste? Brauchen wir nicht. Klassische Anwendungsstarter? Brauchen wir nicht. Tray-Funktionalitäten? Brauchen wir nicht. Gnome ist so strikt, dass es nicht nur Gnome-Nutzern auffällt. In einem abgeminderten Maß kann man das auch bei KDE feststellen: Anwendungen wie Discover oder KDE Connect lassen sich nur umständlich oder unzureichend in kleinere Arbeitsumgebungen integrieren: Selbst bei LXQt wirken diese teils wie Aliens.

Interessant ist: Ich kann und möchte es den großen Desktops nicht verübeln, sich fortlaufend zu entwickeln. Zu kritisieren, dass sich Dinge ändern, Software nach einiger Zeit nicht mehr die selbe sein wird, wie vor Jahren ist ein zweckloser Kampf gegen Windmühlen.

Trotzdem ist es schade, dass sich die Modularität des GNU/Linux-Desktops zu Gunsten der großen Projekte immer weiter von sich selbst entfernt: Fortlaufende Entwicklungen sind selten, aber zumindest bei mir gern gesehen. Das hat nichts mit einer Struktur-konservativen Haltung zu tun. Wenn ein Projekt Entscheidungen trifft ist sicherlich nicht der erste Hintergedanke, welche Auswirkungen diese Entscheidungen auf andere haben könnte. Trotzdem ist es schade, dass sich große Projekte wie Gnome nicht ihrer großen Bedeutung bewusst zu sein scheinen.

Wenn Gnome eine unkonventionelle Entscheidung nach der anderen trifft, ist es nur eine Frage der Zeit, bis diese den gesamten GNU/Linux-Desktop betreffen. Ob Cinnamon, Xfce, Budgie, Mate, Unity oder Pantheon: All diese Arbeitsumgebungen nutzen GTK, doch Gnome wird als Platzhirsch immer wieder mehr Beachtung geschenkt, wenn es um die Weiterentwicklung des grafischen Toolkits geht. Wird so die Modularität auf dem Desktop hochgehalten? Ich wage es zu bezweifeln. Immer wenn Gnome eine eigensinnige Entscheidung trifft, müssen Nutzer damit umgehen.

Manche akzeptieren oder unterstützen die Entscheidung, andere behelfen sich mit Shell-Erweiterungen, andere wechseln die grafische Oberfläche. Die Tatsache, dass das möglich ist, ist ein großer Vorteil freier Software. Wäre es nicht schade, wenn nun große Projekte so groß werden, dass Modularität mit der Zeit aus der Mode kommt?

Viele ärgern sich über eine angebliche Zersplitterung, die den GNU/Linux-Desktop zurückhalten würde und fordern dann, endlich einen Standard über allen, eine einzig richtige Arbeitsumgebung zu bestimmen. Doch ist dieser Ansatz wirklich zielführend? Eine solche Festlegung würde immerhin argumentativ fordern, das was andere als Vielfalt schätzen, endgültig zu unterbinden. Ob das ganze umsetzbar wäre, ist noch eine ganz andere Frage.

De-facto-Standards kommen und gehen, etablieren sich und werden mit der Zeit von anderen abgelöst: Mal schwenkt die Tendenz in Richtung KDE, mal nutzt die Mehrheit Gnome, andere machen es ganz anders und verwenden kleinere Arbeitsumgebungen oder Fenstermanager. Das Schöne an dieser Sichtweise ist, dass all die persönlichen Entscheidungen in der Theorie nebeneinander existieren können sollten.

Warum können Innovationen nicht auf bestehenden Standards aufgebaut werden? Warum könnte Gnome statt einer ganzen Libadwaita-Bibliothek nicht ein Libadwaita-Theme und Libadwaita-Ergänzungswidgets entwickeln?

Ich bin kein Entwickler, aber ich nutze den GNU/Linux-Desktop tagtäglich. Und auch aus Nutzersicht ist es nicht wirklich schön, wenn jeder versucht, das Rad neu zu erfinden. Ich habe mittlerweile keine Lust mehr, Gnome-Programme außerhalb von Gnome einzusetzen. Jeden Monat nach einer neuen Integrationsmöglichkeit für Qt-Programme zu suchen, macht auf Dauer auch keinen Spaß. Und nein, ich möchte nicht die Designrichtlinien anderer Oberflächen nutzen, ich verstehe nicht ganz, warum die Innovationen der einen immer wieder gegen die Interessen der anderen spielen müssen.

Wer sich von Gnome verabschieden möchte, kann zwar auch heute auf Xfce umsteigen und noch sind 90% der Anwendungen auch gut in den Desktop integrierbar. Fraglich ist aber, warum ich mir darüber überhaupt Gedanken machen muss. Liege ich falsch mit der Behauptung, dass die meisten Desktop-Anwender wenn sie sich einmal an eine Oberfläche gewöhnt haben, nicht täglich wechseln wollen?

Sicherlich sind die Innovationen, die den GNU/Linux-Desktops immer und immer weiter tragen sehr interessant und spannend. Ich kann Stunden damit zubringen, die Ideen von Gnome, KDE, Xfce und anderen auszutesten. Ein harmonisches Zusammenspiel der einzelnen Desktopumgebungen erkenne ich aber nicht immer.

Gerade anfängerfreundliche Distributionen wie Linux Mint sind oftmals darauf bedacht, eine kontinuierliche Weiterentwicklung ihrer Desktops sicherzustellen. Die Mint-Entwickler basteln sich beispielsweise im Rahmen der XApps Gnome-Anwendungen so um, dass sie besser zu Cinnamon, Mate oder auch der ausgelieferten Variante von Xfce passen. Schade ist also nicht, dass sich etwas verändert. Schade ist, dass diese Veränderung nicht gemeinsam vorangetrieben zu werden scheint.

Natürlich kenne ich nicht jede Entscheidung der Gnome- oder KDE-Entwickler. Und ich denke auch nicht, dass freie Projekte mit eigenen Ideen die anderer Projekte schlecht dastehen lassen wollen. Die Tatsache, dass das doch manchmal der Fall ist, ist jedenfalls ein bisschen schade.

Werden wir in zehn Jahren alle nur noch Gnome nutzen? Wird sich KDE ein für alle Mal durchsetzen? Wird Xfce zur neuen beliebtesten Oberfläche? Das sind Zukunftsfragen, die sich heute noch nicht beantworten lassen – interessant sind sie trotzdem.

„Don’t look back“: Futuristische Ansätze, freie Software auf dem Desktop voranzubringen, gibt es viele. Manche setzen sich durch, andere blühen im Verborgenen. Wie sich dieser Zusammenhang in den kommenden Jahren entwickeln wird, bleibt natürlich abzuwarten. Gerade die zukunftsträchtigen immutablen Distributionen stellen offiziell aber oftmals nur die großen Arbeitsumgebungen Gnome oder KDE zur Verfügung.

Wer heute eine LTS-Distribution installiert, wird von den Veränderungen, die im Desktopbereich stattfinden, womöglich nicht viel mitbekommen. Bei rollenden Distributionen sieht das schon ganz anders aus.

Ich weiß  nicht, inwiefern sich die Desktoplandschaft weiter zersplittern, oder weiter zentralisieren wird. Vielleicht bleibt auch alles so wie es ist. Wo seht ihr den GNU/Linux-Desktop in zehn Jahren?

Bild: Zacatecnik, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Tags

GNOME, Xfce, KDE, MATE, LXQt

René
Geschrieben von René am 10. März 2023 um 20:44

Ich mag Linux, im Groben funktioniert auch alles. Aber mich hält eine Sache von einem komplettem Wechsel ab. Ich bekomme mein Audiosetup wahrscheinlich nur mit Bastelei zu Laufen. Lautsprecher, Kopfhörer, 1 Mikrofon. Alles mit Voicemeeter zusammen gemixt und über einen Korg Nanokontrol über Midi gesteuert. Programme unterschiedlichen Inputs zuweisen und die Mixe an Programme schicken.

Sicherlich geht das auch mit Linux, aber schnell und einfach nicht. Aber schon die Umsetzung mit dem Korg ist offensichtlich eine Wissenschaft für sich.

UbIx
Geschrieben von UbIx am 11. März 2023 um 17:14

Hallo René, grundsätzlich sehe ich da kein Problem. Meine Empfehlung ist aber eine aktuelle (am besten Rolling Release) Distro mit KDE/Plasma Desktop zu verwenden. Bei mir ist bei Tumbleweed unter KDE/Plasma die Audioverwaltung besser gelöst als unter Windows. Auch ist WINE super aktuell was mehr Möglichkeiten bietet:

https://github.com/tpneill/nanoKontroller https://linuxmusicians.com/viewtopic.php?t=10141

Teste es einfach mal mit einem KDE live Image:

https://get.opensuse.org/tumbleweed/

Dort "Alternative Downloads" öffnen und "KDE LiveCD" downloaden. Alternativ, falls vorhanden nen alten PC/Notebook mal Linux installieren.

Schau doch mal bei deiner LUG oder sogar einen LPD vorbei und lasse dich dort vor Ort beraten:

https://linux-events.org/SL_LUGS:deut

https://l-p-d.org/

Kinghol
Geschrieben von Kinghol am 10. März 2023 um 23:31

Die Überschrift des Artikel suggeriert mir eine persönliche Meinung über die Zukunft des GNU/Linux-Desktop, aber der Artikel selbst gibt nur Kritik am Konzept des Gnome Projekt.

Fabian Schaar
Geschrieben von Fabian Schaar am 11. März 2023 um 10:38

Danke für deinen Kommentar. Meine Kritik an Gnome dient nur als Beispiel, um darzustellen, wie größere und kleinere Projekte in Relation stehen. Entschuldige, dass ich das nicht klarer formuliert habe.

Gerold
Geschrieben von Gerold am 11. März 2023 um 15:56

Danke für den Artikel. Ein Blick zurück vor 30 Jahren war KdE das Maß des Desktops, Gnome etwas später. Ich erinnere mich noch an die Diskussiinen ob Ctrl C und Ctrl V in Linux integriert werden sollen, weil sie von Windows kommen. Die neuen Oberflächen versuchen Windows oder Mac zu klonen um die Schwelle des Umstiegs auf Linux kleiner zu gestalten. Die Vielfalt wird uns bleiben. (Nach 10 Jahren intensiver und jetzt auschließlicher Linuxuser, bin ich noch immer in der Anfänger Distro Mint und mit Cinnamon kann ich gut leben)

mgm
Geschrieben von mgm am 12. März 2023 um 08:33
kamome
Geschrieben von kamome am 14. März 2023 um 12:54

Danke, über Gnome-Apps ärgere ich mich auch immer, wenn ich sie mal verwenden möchte. Wie integriert sich Discover denn schlecht?