Gnome-Shell und die Hassliebe zur Innovation
Mo, 12. Dezember 2022, Fabian Schaar
Hinweis: Das ist ein Meinungsartikel.
In letzter Zeit habe ich den Gnome-Desktop getestet. Mal in Version 43, mal in Version 3.38: Die Ergebnisse waren durchaus positiv. Doch wenn man Gnome so nutzt, wie sich die Entwicklerinnen und Entwickler das gedacht haben könnten, stellen sich zwangsläufig Fragen, nicht zuletzt, ob die eigenen Nutzungsverhalten, die man von KDE über Enlightenment bis hin zu Xfce und Mate wiederzufinden scheint, überhaupt gerechtfertigt waren und sind, oder ob man sie vielleicht doch einmal über den Haufen werfen sollte.
Sicherlich ist Gnome dabei die umgangssprachliche „harte Tour“, immerhin schmeißt einen die Shell schon hin und wieder in kaltes und unbekanntes Fahrwasser, und doch scheinen die Akzente, die der Zwergendesktop setzt, durchaus berechtigt.
Ich für meinen Teil nutze ziemlich gern Dateisymbole auf dem Schreibtisch. Wenn ich einen Desktop nutze, der mir diese Funktion bietet, läuft das bei mir in der Regel so: Steht irgendein Projekt an, speichere ich dieses zunächst auf dem Schreibtisch. Sollte ich den Rechner dann einmal herunter- und nach einer gewissen Zeit, vielleicht am nächsten Tag wieder hochfahren, finde ich die zugehörigen Dateien sofort wieder, weiß so auch genau, wo ich zuletzt aufgehört habe. Kurzgesagt: Der Schreibtisch ist bei mir im Normalfall eine temporäre Ablage, und kein dauerhafter Speicherort. Sollte ich irgendwann mal ein Projekt abgeschlossen haben, sortiere ich die Dateien dann auch artig in die zugehörigen Ordner des Systems ein; sprich: Dokumente zu den Dokumenten, Bilder in den Bilderordner, Audiodaten in das Musikverzeichnis und so weiter, und so fort.
Der Ansatz von Gnome schlägt folglich vor, einen Arbeitsschritt wegzulassen, Dateien direkt an den richtigen Orten abzulegen. Die Erinnerung, was die zuletzt angegangene Aufgabe war, entfällt, oder muss strategisch anders gelöst werden, zum Beispiel über dedizierte Anwendungen. Das kommt mir persönlich zwar weniger intuitiv vor, andererseits erspart es mir auch das nachträgliche Einsortieren und Strukturieren von Dokumenten, die ich schon längst hätte an den richtigen Orten abgespeichert haben können: Brauche ich also wirklich Desktopsymbole?
Einerseits möchte ich mich auf Gnome einlassen und den Desktop eben nicht stur zu einem Konglomerat aus Erweiterungen umbauen, dass mir nach einer Versionsaktualisierung direkt um die Ohren fliegt. Andererseits hänge ich auch an meinen bisherigen Vorgehensweisen und Abläufen, ich kann also auch diejenigen verstehen, die der Gnome Shell bei ihrer ersten Inkarnation sofort den Rücken zugekehrt haben. Mir kommt es vor, als wolle Gnome mich herausfordern, was zwar einerseits interessant, andererseits aber auch kein Vorteil einer grafischen Oberfläche sein sollte: Sollte eine Arbeitsumgebung nicht eigentlich ein netter Begleiter bei der täglichen Bewältigung von Aufgaben und Tätigkeiten am Computer sein, und nicht selbst zur Aufgabe werden?
Vielleicht stilisiere ich diese einfache Frage auch zu einem Problem, das eigentlich gar nicht besteht. Vielleicht sollte ich Gnome auch einfach eine längere Zeit nutzen, meine Abläufe auch einfach auf Gnome anpassen, und nicht Gnome an mich? Vielleicht machen die Ideen, die sich die Gnome-Entwicklerinnen und -Entwickler da einfallen lassen haben, auch nur Sinn, wenn man diesen auch wirklich eine Chance gibt. Vielleicht ist nicht Gnome das Problem, sondern nur meine oder unsere Herangehensweise daran.
Gnome kann als ein Vorschlag betrachtet werden, den jeder mit Leichtigkeit ablehnen kann, aber vielleicht nicht so schnell annehmen will. Manchmal erweckt die Entwicklung dieser Oberfläche den Eindruck, dass Gnome stets nach Wegen sucht, an „seinen“ Anwendern vorbei zu entwickeln.
Das Gegenstück dazu wäre vermutlich der KDE-Desktop, der mir immer wieder das Gefühl vermittelt, es allen und jedem Recht machen zu wollen. Das Ergebnis sind dabei aber nicht selten unverständliche Konfigurationsmenüs, kleine oder große Fehler in der Umsetzung oder auch eine Verlangsamung der Oberfläche als ganzes, was sich nicht zuletzt an der Startzeit zeigt.
Dabei ist es sicherlich auch nicht so, dass Gnome nicht komfortabel oder ausgereift wäre, denn die Funktionen, die Gnome fehlen, konnte man früher durchaus vorweisen, gerade was die Dateiverwaltung angeht. Wer das nicht nachvollziehen kann, möge sich doch bitte einmal den Mate-Desktop als Fortführung von Gnome v2.x anschauen; dort bemerkt man schnell die Ähnlichkeiten und Gepflogenheiten, die sich Mate und Gnome teilen, aber auch, wie viele Funktionen das Gnome-Projekt seit dem Erscheinen der Gnome-Shell und Version drei aus mehr oder minder ideologischen Gründen ausgebaut hat.
Man hätte diese Funktionalität nicht ausbauen müssen, man hätte Gnome v2 nicht vereinfachen müssen. Das Chaos, das Gnome mit seiner dritten Generation ausgelöst hat, hätte sich vielleicht vermeiden lassen, wenn das Mutterprojekt nicht mit derartig vielen Umsetzungen gebrochen hätte, die Anwender an Gnome v2 mochten, und heute bei Mate und Xfce lieben. Der Dschungel der Erweiterungen hätte sich vermutlich umgehen lassen können, wenn Gnome nicht die essentiellsten Funktionaltäten aus dem Kernsystem entfernt hätte. Vielleicht wäre Gnome mit seinem Vereinfachungsansatz weiter gekommen, wenn man bestehende Funktion zugänglicher gemacht hätte, anstatt diese vollständig abzulösen versucht hätte. Derartige Entscheidungen wurden aber getroffen, und nach über zehn Jahren Gnome-Shell glaube ich nicht, dass sie jemals revidiert werden, zumindest nicht vom Gnome-Projekt selbst. Immerhin lebt Gnome in Version zwei auch heute noch fort, ziemlich konkret im Mate-Desktop, in den grundlegenden Paradigmen auch in Oberfläche wie Xfce, die sich schnell entsprechend konfigurieren lassen.
War der radikale Bruch mit den klassischen Ansätzen einer grafischen Oberfläche also schlecht? Vielleicht nicht. War der Bruch der Nutzerschaft mit dem Gnome-Desktop zu erwarten? Ganz sicher.
Nicht selten werden Standards tendenziell höher gehalten, als Innovationen. Das hat nichts mit einem konservativen oder rückwärtsgewandten Verhalten zu tun, sondern damit, dass einige Dinge einfach laufen müssen, wenn sie das zu Gunsten der Innovation nicht mehr können, schaden sich die Innovatoren dabei selbst. Und doch ist es wichtig, sich fortschrittlich zu entwickeln, immerhin hängt so vieles in der Welt nicht nur von einem Faktoren ab. Wenn sich etwa die Hardware ändert, wird das auf Kurz oder Lang auch die Software betreffen, wenn sich die Software ändert, wird sich vielleicht auch unser Nutzungsverhalten ändern, was Hardware betrifft. Derartige Abläufe stoppen zu wollen, gleicht einem Kampf gegen Windmühlen; ich glaube, dass sich der Fortschritt im Zweifel nicht aufhalten lässt. Die Frage ist bloß, inwiefern sich dieser Fortschritt an den bisherigen Strukturen orientiert.
Wie hätte die Welt der grafischen Oberflächen wohl ausgesehen, wenn Gnome seine klassischen Paradigmen fortgesetzt hätte? Vermutlich anders, vielleicht weniger kompliziert, wären Projekte wie Mate, Cinnamon oder Budgie doch weniger notwendig. Unterm Strich kann ich diese Frage auch nicht beantworten, sicher bin ich mir nur bei einem Aspekt: Die Welt der grafischen Oberflächen wäre weniger innovativ. Gnome setzt eigene Akzente, beim Design, bei der Benutzung, bei der Weiterentwicklung des Projektes. Dass dabei etablierte Standard-Funktionen weichen mussten, erscheint mir mehr und mehr zwangsläufig, mehr und mehr wie eine Notwendigkeit, da sich Gnome sonst selbst in seiner Entwicklung eingeschränkt hätte.
Ob man den Weg der Entwickelnden nun mitgeht oder nicht, bleibt natürlich jeden selbst überlassen. Die Shell jedoch zu „bashen“ nur, weil sie den eigenen Anforderungen und Gewohnheiten nicht vollständig entspricht, halte ich für unverhältnismäßig und unhöflich. Am Ende bleibt es eine Entscheidung der Entwickler und der Community, wie sich das Projekt weiterentwickelt. Wenn man mit diesem Prozess nicht einverstanden ist oder sein möchte, wird niemand irgendjemanden daran hindern, Mate, KDE oder Xfce zu nutzen.
Gnome bleibt Gnome. Und das ist auch gut so. Ob ich jetzt unbedingt Symbole auf meinem Schreibtisch brauche, weiß ich immer noch nicht.
Bildnachweis: Gnome_drawing.svg: Baziderivative work: Bazi, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons