Im Eilzug nach Dystopia

  Ralf Hersel   Lesezeit: 7 Minuten

Ein Vergleich zwischen europäischen Wünschen und chinesischer Realität

im eilzug nach dystopia

Ist es der Sonderzug nach Pankow oder sitzen wir im Orient-Express? Die wirtschaftliche und politische Entwicklung scheint in Richtung Osten zu zeigen, und zwar in den fernen Osten. Abgesehen von den tektonischen Verschiebungen der Weltwirtschaft (China) und dem West-Ost-Shift auf geopolitischer Ebene (China), sitzen wir bequem im Sessel (Popcorn) und staunen über den Zerfall von Freiheit und Menschenrechten.

Ihr Zug verlässt den Bahnhof pünktlich um fünf-vor-Zwölf

Wie Moritz Tremmel gestern in einem IMHO-Artikel auf Golem berichtete, möchte die EU-Kommission die E2E-Verschlüsselung von Messengern wie WhatsApp, Threema und Signal mit Uploadfiltern aushebeln. Ein Gesetzentwurf der EU-Kommission will dies für die nächsten fünf Jahre erlauben. Wie das technisch aussehen könnte, hat sich die EU-Kommission gemeinsam mit Fachleuten von Microsoft, Google, verschiedenen Polizeibehörden, dem Geheimdienst GCHQ und mehreren Opferverbänden überlegt.

Der gesellschaftskonforme Hebel ist dabei, wie sooft gesehen, der Kampf gegen Kinderpornografie. Wir alle verabscheuen Kinderpornografie zutiefst, weshalb dieser politische Trick immer wieder gut funktioniert - niemand wird dagegen sein. Hört dazu auch https://librezoom.net/lz21-resilienz/ (ab Minute 22).

Bei Uploads von kriminellen oder urheberrechtlich geschützten Inhalten, soll dabei Microsofts Photo-DNA zum Einsatz kommen. Dabei werden die Inhalte mittels KI-Algorithmen mit in Datenbanken hinterlegten Hashes verglichen, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Die False-Positive/Negativ Werte werden erwartungsgemäss hoch sein (du bist Verbrecher!).

Zum Glück funktioniert das nicht bei E2E-verschlüsselter Kommunikation in Messengern oder verschlüsselten Emails. Doch auch dagegen will die EU-Kommission vorgehen. Der Trick liegt im Abgreifen der Kommunikation vor, bzw. nach der Ver-/Entschlüsselung. Das ist nichts anderes als eine Backdoor in der Messenger-Anwendung, zu der die Hersteller gezwungen werden sollen (die USA haben das schon lange: Patriot Act).

Die Sache hat jedoch einen Haken; E2E-Verschlüsselung wird meist falsch verstanden, weil die Enden zu kurz gedacht werden. Die Enden beginnen im Kopf des Senders und enden im Kopf des Empfängers, und nicht in den Apps von Sender und Empfänger. Dies führt zu einer Umkehr der (vordergründig) gewollten Effekte. Es wird keine Kriminalität bekämpft, sondern begünstigt. Jeder, der in dieser Sparte tätig ist, wird effektive Verschlüsselung einsetzten, die über das gemeine E2E-Konzept hinausgeht und sich nicht um gesetzliche Verbote scheren. Dafür wird die rechtgläubige Mehrheit der Bevölkerung, der ihre Privatsphäre wichtig ist, unter Verdacht gestellt und vorgreifend kriminalisiert.

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Die lokale Regierung von Suzhou in der ostchinesischen Provinz Jiangsu hat ein Punktesystem für ziviles Verhalten eingeführt. Der "Zivilisationskodex" hat eine heisse Debatte ausgelöst, in der die Öffentlichkeit über Formalismus und das Potenzial für Machtmissbrauch besorgt ist. Das Bewertungssystem für ziviles Verhalten, der so genannte Zivilisationscode, umfasst Indikatoren wie den Freiwilligen-Index und den Index für den Zivilverkehr, der sich auf das Verkehrsverhalten einer Person bezieht. Der Freiwilligenindex vergibt auch Punkte für die Teilnahme an freiwilliger Arbeit.

Die Behörden behaupten, der Zweck des Zivilisationskodex, der am vergangenen Donnerstag eingeführt wurde, sei die Förderung der "sozialen Verantwortung". Das Büro für öffentliche Sicherheit möchte noch weitere Indizes definieren, die in das Punktesystem aufgenommen werden sollen. In einer Erklärung behauptete das Büro jedoch, dass der Kodex dazu beitragen würde, ein "persönliches Porträt" der Einwohner zu erstellen, das gute Gewohnheiten wie Verkehrsverhalten, Mülltrennung, Freiwilligenarbeit, soziale Höflichkeit, zivilisiertes Essen, Einsparung von Nahrung, gutes Online-Verhalten und Gesetzestreue fördern würde.

Allerdings steht die Öffentlichkeit dem Kodex skeptisch gegenüber. Im Internet brachen hitzige Debatten über den Formalismus des Kodex, die Standards der Kriterien und den potenziellen Machtmissbrauch aus. Irgendwann werden einige Bürger höhere 'Zivilisationswerte' haben als andere. Aus diesem Grund wird in Frage gestellt, ob es fair ist, dass die öffentlichen Dienste einigen Menschen Vorrang einräumen. Der allgemeine Konsens unter den Netzbürgern ist, dass der Zivilisationskodex eine Verletzung der Menschenrechte darstellt, da er einige Menschen auf der Grundlage unbekannter Standards diskriminiert.

Ein örtlicher Beamter behauptete jedoch, dass es in dieser frühen Prozessphase keine Konsequenzen hätte, Punkte zu verlieren - noch nicht.

Nach Ansicht von Zhao Peng, Professor an der China University of Political Science and Law, ist der Versuch, ziviles Verhalten zu fördern, vernünftig. Die Frage sei nur, wie man dieses Ziel erreichen wolle. Der Rechtsexperte sagte, dass die Regierung eine zivilisiertere Gesellschaft aufbauen sollte, indem sie "Selbstdisziplin fördert" statt versucht "verbindliche Massnahmen" durchzusetzen.

Einige sind der Meinung, dass der Zivilisationskodex überstürzt wurde, im Gegensatz zum Kreditwürdigkeitsprüfungssystem, das sorgfältig entwickelt wurde. "Wenn eine Politik der Öffentlichkeit das Gefühl gibt, begrenzt zu sein oder sich unbehaglich zu fühlen, dann muss etwas daran falsch sein", bemerkte der Exekutivdirektor des Forschungszentrums für Menschenrechte der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften, Liu Huawen. Huawen freute sich, dass die Chinesen beginnen, sich gegen die Verletzung ihrer Rechte auszusprechen.

"Die online entfachten Kontroversen deuten darauf hin, dass der Sinn des chinesischen Volkes für die Menschenrechte zunimmt, was auch als Mahnung für die Regierungsbehörden dient, die Politik vorsichtiger zu gestalten und zu fördern, um die eigene Privatsphäre zu respektieren und ein Gleichgewicht zwischen Macht und Rechten herzustellen", sagte er.

Quellen:

https://www.golem.de/news/ueberwachung-ende-zu-ende-verschluesselung-versus-uploadfilter-2009-150853.html

https://reclaimthenet.org/china-digital-civilization-code/

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EU-Kommission, E2E-Verschlüsselung, China, Zivilisationskodex, Golem, Messenger, E2E, Menschenrecht, Kodex

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