Retro: Mighty Mouse

  Ralf Hersel   Lesezeit: 11 Minuten

Ein Rückblick auf eine Vision aus dem Jahre 2011.

retro: mighty mouse

Retro-Hardware liegt im Trend; trifft das auch auf Retro-Artikel zu? Vor zehn Jahren habe ich viel für YALM (Yet Another Linux Magazine) und FreiesMagazin.de geschrieben. Zum Glück sind alle Beiträge aus dieser Zeit noch erhalten. Heute möchte ich euch mit einem Artikel aus dem Jahr 2011 unterhalten. Darin geht es um eine Zukunftsvision für die Ubuntu-Distribution.

Zürich, Januar 2011
In diesem Winter hört es nicht auf zu schneien. Die Leute laufen mit hochgeschlagenen Krägen und eingezogenen Köpfen durch die Bahnhofstrasse um ihre Weihnachtsgeschenke umzutauschen. Manch einer ist auf dem Weg zum neu eröffneten Ubuntu Flagship Store.

Seit über zweieinhalb Jahren läuft mein Notebook nun mit Hardy Heron wie eine Eins. Damals hatte die LTS Version nach den durch Compiz Fusion bedingten Schwächen deutlich an Stabilität zugelegt. Beim alten Gutsy half nur noch das Abschalten der visuellen Effekte um ungestört arbeiten zu können. Nun ist das gute 8.04 nicht mehr der Technologie letzter Schrei und ruft nach Upgrade auf das Release 10.10 mit dem hübschen Beinamen 'Mighty Mouse'.

Nicht nur technologisch, sondern auch in der Gunst der Käufer und Hersteller hat Ubuntu grosse Fortschritte gemacht. Vorbei sind die Zeiten, in denen Hardware Hersteller es sich erlauben konnten für ihre Geräte keine Linux-Treiber zu entwickeln. Die Mischung von Community-eigenen Treibern und Unterstützung durch die Hersteller lassen heute kaum noch Wünsche beim Betrieb von PCs, Notebooks und Mobiltelefonen zu. Apropos Mobiltelefon, ein Upgrade auf Mobuntu 10.10 ist heute auch noch fällig.

Der neue Ubuntu Flagship Store wurde erst im Dezember 2010 eröffnet und soll deutlich mehr als die Linux Distribution bieten – man darf gespannt sein. Open Source Software hat sich längst als gesellschaftliches Phänomen etabliert. Heute gehört es nicht mehr zum guten Ton, proprietäre Software zu verwenden und erst recht nicht, proprietäre Dateiformate zu erzeugen. Undenkbar, einen Text oder eine Tabelle im DOC oder PPT Format zu versenden und den Empfänger damit zu nötigen, eine Software zu kaufen um dieses Format lesen zu können. Heute werden solche Dateien gemäss dem ISO Standard für Office Dokumente (Open Document Format) erstellt, damit jeder ohne Aufwände die Möglichkeit hat diese zu lesen und zu bearbeiten. Man stelle sich nur vor, ein Industriebetrieb würde Schrauben in einer eigenen Grösse herstellen, die nicht ISO-konform ist und nur zu den Muttern der gleichen Firma passen würde – lächerlich. Zum Glück sind diese dunklen Jahre vorüber.

Zurück zum Ubuntu Store – er müsste dort um die nächste Ecke liegen – ja, da ist er. Nun ja, Canonical hat sich nicht lumpen lassen. Ein vierstöckiges Gebäude mit hell erleuchteten Schaufenstern und jeder Menge Leute die durch das breite Portal hinein und herausströmen. Früher war in diesem Block einmal ein Kaufhaus untergebracht. Also hinein und sehen, was geboten wird. Am Eingang ist ein Eintrittspreis von 5 Franken fällig. Das ist günstig im Vergleich zu dem, was andere Geschäfte in der Zürcher Innenstadt verlangen. Der Eintrittspreis für die „Shopping Experience“ hat sich in den grossen Städten etabliert. Als Gegenleistung erhält man ein gediegenes Interieur, sehr gute Beratung und die Möglichkeit alle Waren ausgiebig zu testen. Gekauft wird in den modernen Geschäften kaum noch. Es geht viel mehr um die Entscheidungsgrundlage für den späteren Einkauf in einem Internet-Shop. Dort kann man sich über Shopping-Bots den besten Preis und die passenden Service-Leistungen suchen lassen. Beratung und Verkauf sind damit streng voneinander getrennt.

Wer im Erdgeschoss des Ubuntu-Shops Computer und Software erwartet, hat sich getäuscht. Hier läuft gerade eine Fashion-Show bei der fünf Models die Frühjahrskollektion des U-Labels auf einem Laufsteg im afrikanischen Stil präsentieren. Passend zur Mode gibt es tribale Rhythmen und Drinks. Von Software oder Hardware keine Spur – dafür schwebt der Gemeinschaftssinn fast greifbar durch die Luft. Wer es noch nicht weiss, das Wort „Ubuntu“ kommt aus der Zulu Sprache und bedeutet Menschlichkeit und Gemeinsinn.


Schräg gegenüber der Modenschau gibt es eine Klatsch- und Tratsch-Ecke in der auf einigen Leinwänden die neusten Gerüchte, Nachrichten und Produkte aus der Linux-Welt zur Diskussion anregen. Tatsächlich ist diese Seite des Shops ein Café mit grossen ovalen Tischen, die zum Kontakt und Gespräch einladen. Im Eintrittspreis ist ein Getränk inbegriffen. Interessant ist die Mischung der Gäste an den Tischen. Neben jungen Leuten aus dem Geek-Lager sind auch viele Geschäftsleute zu sehen. Wen wundert es, wo sich doch Open Source Produkte einer zunehmenden Beliebtheit in den Teppichetagen vieler Firmen erfreuen. Kostendruck, offene Standards und vor allem die Lizenzpolitik der alten Software-Dinosaurier haben zu einem Umdenken vieler IT-Leiter geführt. Die Sicherheitsschwächen proprietärer Software bedeuteten für einige Grossfirmen in den letzten Jahren das Aus. Erst vor kurzem wurde ein weltweit tätiges Versicherungsunternehmen durch eine Global Denial of Service Attacke in den Konkurs getrieben. Die Analyse ergab mehrere Fehler in der eingesetzten ERP-Software, die aufgrund des Closed Source Codes nicht rechtzeitig entdeckt wurden.

Neben dem Café kommt man zur Gadget-Ecke. Alles was die ambitionierte Ubuntera für den täglichen Gebrauch benötigt, wird hier ausgestellt. Parfum-Flakons mit eingebauten USB3-Sticks, Halstücher aus OpenRFID Gewebe und auch ein paar neue Geräte für Fashion Victins. Heiss begehrt sind die Notebags mit Lederbezug und Brennstoffzelle. Auf dem Frontdisplay läuft eine Applikation mit der sich fingergesteuert die täglichen Arbeiten wie Email lesen, Termine verwalten und Notizen erstellen erledigen lassen, ohne dass das Notebag geöffnet werden muss.


Über eine Rolltreppe gelangt man in die zweite Etage in der die aktuelle Ubuntu-Version vorgestellt wird. In mehreren Ecken laufen Präsentationen zu den verschiedenen Aspekten von Ubuntu 10.10 „Mighty Mouse“. Bei den „Office Applications“ wird die überarbeitete Gnome-Suite gezeigt. Aus den zusammenhanglosen Einzelanwendungen (Abiword, Gnumeric usw.) sind jetzt aufeinander abgestimmte, schlanke Programme geworden, die einem einheitlichen Bedien- und Designkonzept folgen. Damit steht eine gute Alternative zum monolithischen  OpenOffice zur Verfügung.

Das neue Desktop Paradigma von „Mighty Mouse“ wird in einer weiteren Präsentation  vorgestellt. Auf dieser Arbeitsoberfläche können Dateien genauso organisiert werden wie auf einem richtigen Schreibtisch. Dokumente können mit dem Finger herumgeschoben, gestapelt und zusammengeknüllt werden. Damit kann man auf dem Desktop das gleiche Chaos verursachen wie auf dem realen Schreibtisch.

Mein altes Notebook und Handy gebe ich beim Update-Service ab. Statt wie üblich die neuste Ubuntu-Version über das Internet automatisch zu aktualisieren, überlasse ich den Mitarbeitern im Store die Abstimmung meiner beiden Geräte. Hier kann ich mir sicher sein, dass anschliessend alle Einstellungen auf meine Bedürfnisse optimiert sind und das Handy perfekt mit meinem Notebook zusammenarbeitet.

In einer weiteren Ecke werden Branchenanwendungen vorgeführt. Lösungen für Musiker und Grafiker ziehen viele Zuschauer an aber auch klassische Firmenanwendungen wie Finanzbuchhaltung, Warenwirtschaft und Logistik stossen auf reges Interesse.

Alles was in diesen Präsentationen gezeigt wird, kann in der dritten Etage in diversen Workshops ausprobiert werden. „Anwender schulen Anwender“ lautet hier das Motto. Jeder User, der sich in einem bestimmten Bereich gut auskennt, kann sein Wissen den Lernwilligen vermitteln. Da der Update-Service gute 40 Minuten für meine Aktualisierung von Hardy auf Mighty braucht, gönne ich mir eine kurze Lektion GIMP 4.0. Die Standardapplikation zur professionellen Bildbearbeitung hat bei der Bedienung noch einmal kräftig zugelegt. So lässt sich zwischen dem klassischen GIMP und einem Photoshop Look-and-feel umschalten. Die Software sieht damit aus wie Photoshop und verhält sich auch genauso wie der frühere Grafikprimus.


Mittlerweile sind mein Notebook und das Handy auf dem aktuellen Stand des Betriebssystems und für die Zusammenarbeit optimiert. Mit dem Mobiltelefon kann ich exakt die gleichen Applikationen und Module nutzen, die auf meinem Notebook installiert sind. Egal ob Emails, Kalender oder Adressen in Evolution oder die Musiksammlung unter Rhythmbox – die Daten und Anwendungen sind auf beiden Geräten immer synchron. Vorbei sind die Zeiten, als man via Speicherkarte oder Bluetooth die Bilder vom Photohandy auf den PC übertragen musste. Sobald ich ein Bild mit dem Handy fotografiere, befindet es sich auf meinem Notebook und auf meinem Webserver.

Während der Kanada Reise im letzten Jahr konnte ich mein Internet-Tagebuch immer auf dem letzten Stand halten. Dafür brauchte ich nicht mehr als mein Handy. Jedes Photo und jeder diktierte Blog-Eintrag erschien unmittelbar auf meiner Homepage. Meine Eltern hat es gefreut und ich konnte das Kanufahren geniessen anstatt stundenlang im Internet-Café meinen Blog nachzuführen. Seitdem Mobuntu auf meinem Mobiltelefon läuft, entscheide ich selbst darüber, von welchem Mobilfunk-Provider ich welchen Service in Anspruch nehme. Auf jeden Fall bestimme ich, welche Software auf meinem Handy läuft, wer meine Daten erhält und welche Dienste ich benutze.

Was wohl auf der vierten Etage des Ubuntu Flagship Stores zu finden ist? Die letzte Rolltreppe fährt in die Future-Zone. Hier stellen verschiedene Organisationen ihre Zukunftspläne vor und diskutieren sie mit den Besuchern. Am Stand von Dentalbeats wird ein Backenzahnimplantat gezeigt. Der eingebaute UC (ubiquitous computer) kommuniziert drahtlos mit einer beliebigen Ubuntu Installation und kann einzelne Stücke einer Musiksammlung über den Kieferknochen an das Gehör übertragen – in Hifi Qualität. Hinter einer Trennwand aus Milchglas entdecke ich den Umriss eines Zahnarztstuhls – ich gehe schnell weiter.


Ein paar Schritte weiter bietet die Open Democracy Group (eine Unterorganisation der United Nations) die Zertifizierung des persönlichen Genom-Schlüssels an. Er ist für die Teilnahme an den Freien Wahlen zum UN Vorsitz im nächsten Jahr notwendig. Eine lange Schlange von politisch Interessierten steht dort an.

Es wird Zeit zu gehen – dieser neue Flagship Store ist sehr beeindruckend. Die Durchdringung des Alltags mit dem Gedankengut der Open Source Bewegung und des Ubuntu Gemeinsinns lassen sich in diesem Haus atmen. Als ich das Gebäude verlasse, streckt mir an der nächsten Häuserecke ein Obdachloser am Boden eine CD entgegen: „MS Windows 11 – nur 10 Franken“ ruft er. Ich gebe ihm die 10 Franken und lehne dankend ab.

Quelle: http://freiesmagazin.de/ftp/yalm/2008/yalm.2008.01.pdf

Preisausschreiben:
Wer als erste/r errät, um welches Gebäude es sich auf dem ersten Bild handelt, gewinnt ein Retro-Linux-Kompendium (zwei Jahre neuer, als dieser Artikel geschrieben wurde) mit über 1200 Seiten von Michael Kofler. Es gewinnt der erste richtige Eintrag über die Kommentarfunktion zu diesem Artikel. Die GNU/Linux.ch-Redaktion ist von der Teilnahme ausgeschlossen.

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Mighty, Ubuntu, Software, Mouse, Notebook, Handy, Retro, Linux

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