Ich könnte schwören, dass wir diese Serie schon einmal hatten; das Thema kommt mir sehr vertraut vor. Wie Fabian in seinem Einleitungsartikel zur Serie geschrieben hat, geht es nicht unbedingt um Werkzeuge, sondern eher um den persönlichen Workflow, bzw. die Einstellung zur Arbeit. Diesen Gedanken möchte ich ein wenig ausarbeiten.
Man könnte es sogar als "Windows versus Linux" framen, wenn man solche Vergleiche mag. In der Windows-Welt werden meistens hoch spezialisierte Werkzeuge verwendet, um zu einem Ergebnis zu kommen. Das kann eine Text-Datei, eine Foto-Bearbeitung, eine Webseite oder ein Datei-Sharing sein. Da wird in den meisten Fällen mit Kanonen auf Spatzen geschossen, was dazu führt, dass Anwender:innen teure Tools verlangen, um einfache Arbeiten auszuführen.
Anfrage an die IT-Abteilung: "Könnt ihr mir bitte Photoshop installieren, damit ich ein Foto drehen kann. Könnt ihr mir bitte Sharepoint installieren, damit ich eine Datei teilen kann. Könnt ihr mir bitte Visio installieren, damit ich ein Organigramm zeichnen kann."
Solche, und viele andere Anfragen erlebe ich jeden Tag im Büro. Manchmal sind sie berechtigt; meistens wird nach vergoldeten Türklinken gerufen.
Wer mehrere Jahre mit Freier Software arbeitet und die GNU/Linux-Philosophie verinnerlicht hat, weiss, dass man mit einfachen Mitteln oft schneller zum Ziel gelangt. Hinzu kommt, dass die einfacheren Mittel ablenkungsfreier und besser beherrschbar sind. Ich scheue mich an dieser Stelle nicht, den uralten Artikel von der Kathedrale und dem Basar aus der Mottenkiste zu ziehen. Daran angelehnt gibt es die Aussage:
Mache ein Programm zu einem Zweck, aber mache es perfekt.
Und dieser Zweck ist nicht die Eier legende Wollmilchsau (aka. Microsoft 365), sondern der perfekte Texteditor, das perfekte Grafikprogramm oder die perfekte Art und Weise, wie man Inhalte im Internet publiziert. Erst heute hatte ich im Büro ein anschauliches Beispiel dafür. Im Projekt "Prozessmanagement" wollte ich mit BPMN modellierte Prozesse zu Dokumentationszwecken auf einem Webserver publizieren. Dazu wurde mir Microsoft Sharepoint als Mittel der Wahl nahegelegt. Ich habe es ausprobiert, um festzustellen, dass HTML-Dateien in Sharepoint nicht als solche dargestellt werden, sondern "interpretiert" werden. Das führte zu leeren Seiten und enttäuschten Kunden. Was ich wollte, war lediglich ein einfacher Webserver, auf den ich ein paar Hundert HTML-Dateien und PNG-Bilder hochladen konnte.
In vielen Open-Source-Projekten werden Wikis für die Dokumentation verwendet. Das ist ein tolles Beispiel, wie man ablenkungsfrei und mit einfachen Mitteln Inhalte transportieren kann. Wikis sind sehr flexibel und bieten viele Features, wenn man sie tatsächlich braucht.
Die Wikipedia ist nicht ohne Grund ein Wiki.
Leider werden grundsätzliche Konzepte - wie ein Wiki - von der Mehrheit der im Büro arbeitenden Bevölkerung abgelehnt, weil sie es nicht verstehen. Warum verstehen sie es nicht? Weil sie seit Jahrzehnten auf Microsoft, anstatt auf Informatik geschult wurden. Man mag jetzt einwenden, dass die Wiki-Syntax ein etwas spezielles Konzept ist, welches man nicht in der Schule lernt. Daher bringe ich ein anderes Beispiel: Wenn ihr einen unformatierten Text schreiben möchtet, zum Beispiel, um ein Gesprächsprotokoll aufzuzeichnen; welches Werkzeug verwendet ihr dafür? Microsoft OneNote oder Word?
Microsoft OneNote
Darf es noch etwas komplizierter sein? Wenn ich eine Notiz schreiben möchte, will ich kein Fahrrad zeichnen. Es ist nett, dass es möglich ist, widerspiegelt jedoch einen Realitätsverlust. Niemand auf dieser Welt erstellt Checkboxen, Sternchen und Felgen, wenn es darum geht eine Notiz zu erfassen.
Ich habe gestern in einem Meeting mit dem Leiter der Finanzabteilung unserer Organisation einen Geschäftsprozess erfasst, während er gesprochen hat. Könnt ihr euch vorstellen, wie das ausgesehen hat?
Schnell einen Texteditor gestartet und mit dem Schreiben begonnen! Da hat man keine Zeit für Schriftarten, Bildchen und Zeichnungen. Hinweis: Der Text im Screenshot ist nachgestellt und entspricht nicht den tatsächlichen Notizen. Aber darum geht es ja nicht. Seht ihr den Unterschied zwischen OneNote und dem wirklichen Leben? Und damit fängt es erst an; wer will denn eine proprietäre Datei seiner Notizen haben, die man in keiner anderen Anwendung weiterverarbeiten kann?
Ich könnte jetzt noch ewig weiterschreiben und andere Beispiele nennen. Stattdessen möchte ich meine drei Groschen zum "Ablenkungsfreien Schreiben" in den Hut werfen:
- Keep it simple and stupid
- Verwende Formate, die du weiterverarbeiten kannst
- Verwende eine einfache Anwendung, die du gut beherrschst
- Verschiebe die Formatierung und Aufbereitung auf später
Und ganz wichtig: "Mache es wie das Faultier: ablenkungsfrei!"
Dem stimme ich vollständig zu. Wenn ich schnell eine Notiz machen will, habe ich "Vim" im Terminal, für Bilder zu drehen habe ich meinen "Bildbetrachter" oder für zum teilen von Dateien habe ich "Warpinator". Da brauche ich keine aufgeblähte Software um vernünftig an meinem Rechner arbeiten zu können. Weniger ist manchmal einfach mehr...
"wer will denn eine proprietäre Datei seiner Notizen haben, die man in keiner anderen Anwendung weiterverarbeiten kann?" Ohja, das erinnert mich an die Zeit wo ich von Windows zu Linux gewechselt bin. Seit ich damals meine gesammelten Notizen einmal mehr oder weniger neu schreiben durfte wird das nur noch in Markdown geschrieben. Das lässt sich im Falle des Falles in jedem Texteditor öffnen.
So sieht es wirklich aus In dem Zusammenhang passt mein Artikel featuritis statt Produktpflege vom letzten Jahr
Danke Ralf, du sprichst mir aus der Seele. Bei uns ist der SharePoint heilig, und Mitarbeitern werden die "Vorzüge" von OneNote vermittelt. Programmierdokus werden im jeweiligen Projekt als Word-Dateien abgelegt, die sich nativ nicht mit VSCode öffnen lassen. Die Abhängigkeit zu MS ist mittlerweile so groß, dass es unmöglich sein wird jemals wieder von MS wegzukommen.