Den meisten Lesern von GNU/Linux.ch wird netzpolitik.org ein Begriff sein. Dort bin ich schon mehrfach auf oben stehende Aussage gestoßen. Und auch wenn ich keinen Zweifel an der Güte der Arbeit von netzpolitik.org habe, so hat mich diese Zahl doch nie losgelassen. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr Fragen kamen mir. Also hab ich mich auf die Suche gemacht.
Die Kurzfassung: Die Zahl stammt aus einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes (Deutschland). Dort wurden im Rahmen eines Mikrozensus Fragen an die Bevölkerung gestellt. Unter anderem auch, wie oft Sie das Internet nutzen. Die Frage plus Erläuterung im Volltext:
„Wann haben Sie zuletzt das Internet genutzt?“
Die Nutzung des Internets kann an beliebigen Orten erfolgt sein
(zu Hause, am Arbeitsplatz oder an anderen Orten) und mit
beliebigen, internetfähigen Geräten (z. B. mit Desktop-PC, Laptop,
Tablet, Smartphone, Spielekonsole, E-Book-Reader).
Als Antwortmöglichkeit standen
- In den letzten 3 Monaten
- Vor mehr als 3 Monaten, aber innerhalb der letzten 12 Monate
- Vor mehr als 12 Monaten
- Noch nie
zur Auswahl.
Die Ergebnisse nach Alter verteilt sind dem Titelbild zu entnehmen. Ein Blick in die EU zeigt jedoch, damit liegt Deutschland sogar noch unter dem EU-Durchschnitt von 7 %.
Disclaimer:
Ich bin kein Statistiker oder ähnliches, ich habe versucht, die Angaben des Statistischen Bundesamtes bestmöglich zu verstehen und wiederzugeben, möchte aber jeden motivieren, sich die Zahlen selbst anzuschauen. Das Statistische Bundesamt stellt eine Vielzahl an Rohdaten und Auswertungen zu diversen Themen bereit.
Damit wäre die Eingangsfrage beantwortet, leider hat das mich bei meinen eigentlichen Fragen nicht wirklich weiter gebracht. Abgesehen von den Quellenangaben, folgen jetzt meine Überlegungen zur Bedeutung und Implikationen der Ausgangsfrage. Ab jetzt beginnt also der eigentliche Meinungsartikel.
Mein erster Gedanke war, natürlich kommt man auf 6 %, wenn Babys und andere Personen, die zu einer bewussten Interaktion mit internetfähigen Geräte nicht in der Lage sind, mit betrachtet werden. Aufgrund der Altersbeschränkung von 16 bis 74 Jahre fallen jedoch Babys raus. Andere Personengruppen, die dauerhaft dazu nicht in der Lage sind, dürften so geringe Größen haben, dass diese, mit der deutschen Bevölkerung verglichen, keinen merkbaren Einfluss haben.
Ich gehe jedoch fest von deutlich mehr als 6 % aus, wenn es keine Obergrenze gäbe. Personen, die 2022 65 bis 74 alt waren, waren mindestens bis in die 2010er im Berufsleben tätig. Teilweise noch bis heute. Ich halte es für ausgeschlossen, dass 15 % dieser Altersgruppe noch nie in ihrem (Berufs-)Leben das Internet genutzt haben. Das ist natürlich recht leicht mit dem konstanten Problem selbst berichteter Daten zu erklären (dieser rein fiktive Dialog dient nur der Veranschaulichung).
„Internet? Ne ne, das nutze ich nicht.“
„Wofür nutzen Sie ihr Handy?“
„Google und Facebook.“
In diesem Problem versteckt sich meiner Meinung nach aber noch eine interessantere Frage. Was heißt überhaupt „das Internet nutzen“?
Ich denke, wir können uns alle einigen, wenn ich mit meinem Rechner erst was google, dann auf Amazon shoppe, um im Anschluss noch bei Spiegel online in den Kommentaren rum zu pöbeln, nutze ich das Internet. Aber wie sieht es aus, wenn ich mit meinem Festnetztelefon ein anderes Festnetztelefon anrufe, mein Telekommunikationsdienstleister aber VoIP nutzt? Ich im Bus sitze und die Werbe-/Informationsdisplays studiere, deren Anzeigen aber über das Internet ausgerollt werden? Meine Enkelin mir ein Smartphone gibt, damit ich Majong spielen kann und es so einrichtet, dass es sich bei Ihr immer mit dem WLAN verbindet und Updates im Hintergrund macht. Ich davon aber nichts mitbekomme, da wir dann immer lecker Kuchen essen?
Das andere Extrem wäre zu sagen, wenn irgendwo in der Produkthistorie Internet verwendet wurde, habe auch ich es schon genutzt. Also nur, weil ich eine Packung Nudeln im Supermarkt kaufe, nutze ich das Internet. Denn der Lieferant der Eier für die Nudeln nutzt eine automatische Anlage, die zu einer festen Uhrzeit den Hühnerstall öffnet, die die Uhrzeit aber von irgendeinem Server holt. Dann gäbe es niemanden mehr auf dem Planeten, der nicht das Internet „nutzen“ würde. Hier wäre man meiner Meinung nach „Nutzen aus dem Internet ziehen“ eine passendere Formulierung, auch wenn diese auch ihre Probleme hat.
Anhand der Beispiele ist erkennbar, dass die Frage, wie viele Leute das Internet nutzen, allein schon wegen einer nicht sinnvoll festlegbaren Definition nicht wirklich beantwortbar ist. Ultimativ sollte die Antwort jedoch sowieso bedeutungslos sein. Da alle Dienste der Daseinsfürsorge (Staatsleistungen, aber auch Informationsquellen, Energie, Wasser, Lebensmittel, etc.) und eine Vielzahl anderer Dinge (Theater, Urlaubsreisen, Filme usw.) auch ohne Zugriff auf einen Internetzugang für jeden zugänglich sein müssen. Ob dann im Hintergrund das Internet verwendet wird, natürlich bei entsprechender sicherer Verwendung, ist irrelevant.
Abschließend sei noch auf die Arbeit des Vereins Digitalcourage verwiesen. Diese haben zum Thema Digitalzwang bereits gute Arbeit geleistet. Auf der Seite Digitalzwang kann nicht nur selbst erlebter Digitalzwang gemeldet werden (selbstverständlich auch ganz analog), sondern sich auch zum Beispiel über ein „Grundrecht auf analoges Leben“ informiert werden.
Quellen:
Pressemeldung Statistisches Bundesamt https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/Zahl-der-Woche/2023/PD23_15_p002.html
Grafik: Nutzung EU: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/Zahl-der-Woche/2023/PD23_15_p002.html
Erhebung über die private Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien: https://www.destatis.de/DE/Methoden/Qualitaet/Qualitaetsberichte/Einkommen-Konsum-Lebensbedingungen/ikt-private-haushalte-2022.pdf?__blob=publicationFile