Zum Wochenende: Die Zentralisierung des Internets

  Ralf Hersel   Lesezeit: 7 Minuten  🗪 10 Kommentare

Die Klumpenbildung der letzten 10 Jahre ist die grösste Gefahr für Wirtschaft und Gesellschaft.

zum wochenende: die zentralisierung des internets

Das ARPANET (Advanced Research Projects Agency Network) war ein Computer-Netzwerk und wurde ursprünglich im Auftrag der US Air Force ab 1968 von einer kleinen Forschergruppe unter der Leitung des Massachusetts Institute of Technology und des US-Verteidigungsministeriums entwickelt. Es ist der Vorläufer des heutigen Internets. Es sollte ein dezentrales Netzwerk geschaffen werden, das unterschiedliche US-amerikanische Universitäten, die für das Verteidigungsministerium forschten, miteinander verband. Das damals revolutionäre dezentrale Konzept enthielt schon die grundlegenden Aspekte des heutigen frühen Internets.

Einer der militärischen Zielsetzungen und Grundideen des Internets ('interconnected networks'‚ 'zusammengeschaltete Netzwerke‘) war, die Ausfallsicherheit und Manipulierbarkeit dieses Zusammenschlusses von Netzwerken sicherzustellen. Ein Angriff auf einzelne Knoten des Netzwerks sollte nicht zum Ausfall des gesamten Netzes führen. Deshalb wurde das Arpanet und dessen Nachfolger, dem Internet, massiv dezentral ausgelegt. Heute ist das Internet nur noch ein blasser Schein der damaligen Idee.

Spätestens seit dem Internet 2.0, wurde die Idee von wirtschaftlichen Interessen gekapert und in seinen Grundfesten erschüttert. Der Übergang von einem militärisch ausgerichteten Arpanet zum Internet und Tim Berners Lees World Wide Web, verfolgte eine wissenschaftliche und (später) gesellschaftliche Idee. Das Internet sollte Wissen und Menschen schrankenlos miteinander verbinden. Es war in den 90er und Anfang der 20er Jahre eine unpolitisches und nicht-kommerzielles, dezentrales Netzwerk.

Die Ausrichtung und Machtverhältnisse im Internet änderten sich stark, nachdem die Wirtschaft das enorme Potenzial von vernetzten Menschen verstanden hatte. Seitdem wandelte sich das Web vom dezentralen zum zentralisierten Netzwerk. Den Anfang machte dabei die Firma Google ab 1997, welche den bis dahin etablierten Verzeichnisdiensten (CompuServe, AOL, Lycos, Yahoo) den Garaus machte. Anstelle der Verzeichnisse trat die Suchmaschine; die Internet-Telefonbücher wurden durch eine Suche über indizierte Webseiten ersetzt. Hier zeigte sich erstmals, dass Komfort über die Intelligenz der Benutzer:innen die Oberhand gewann. Anwender:innen wollten nicht nachschlagen, sondern suchen (viel später konnten sie nur noch Wischen).

Exkurs: Betrachtet man die Entwicklung des Internets aus einer geschichtlichen und gesellschaftlichen Perspektive, haben die meisten der nach 2000 Geborenen einen grossen Nachteil: Sie haben das Internet mit seiner ursprünglichen Intention nie kennengelernt; sie wurden zum 'Dienen' geboren.

Heute hat sich das Internet (man sollte es nicht mehr so nennen; wie wäre es mit Skynet oder Metanet) in sein Gegenteil verwandelt. Fragt man die Leute auf der Strasse nach Synonymen für das Internet, fallen grösstenteils die Big-Five GAFAM-Namen: Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft. Fast niemand wird so antworten: E-Mail, Provider, Knoten, Rechner, Fediverse. Das Internet ist zu einer kapitalistischen Marketing-Wohlfühl-Welt verkommen. Von den Gründerideen ist so gut wie nichts übrig geblieben.

Aus der Perspektive der Endanwender:innen mag man das akzeptieren: Die Masse des Werbeviehs (sorry) korreliert mit seiner eigenen Dummheit, oder um es mit Albert Einstein zu sagen:

"Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit, aber bei dem Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher."

Heute ist das Internet vollkommen zentralisiert und das absolute Gegenteil der ursprünglichen Ideen: Dezentralisierung, Ausfallsicherheit, Resilienz (Anpassungsfähigkeit). Was wir seit einigen Jahren sehen, ist Massenverfolgung, Manipulation, Propaganda und grosse Sicherheitsrisiken für Privatpersonen und Organisationen.

Hinweis: Das ist ein Meinungsartikel; ihr solltet mir widersprechen.

Nun möchte ich zum Kern kommen; dem Grund, warum ich diesen Artikel überhaupt geschrieben habe. Wir beobachten jede Woche und jeden Tag Kompromittierungen der IT-Systeme im Internet. Wo soll ich anfangen? Nennt mir eine Firma, Organisation, Webseite, Behörde, usw., die in den letzten Jahren kein Daten-Leak, keinen Verschlüsselungs-Trojaner, keinen 'sorry, das war ein Software-Fehler', keinen Malware-Fail hatte. Ich formuliere das so herum, weil die Liste der Beispiele sonst zu lang würde.

Ihr arbeitet oder lernt in Firmen, Schulen oder Organisationen jeglicher Art. Was passiert, wenn AWS, Azure, Google, Meta (Facebook, WhatsApp, Instagram), Playstore oder Apples AppStore für (sagen wir einmal) eine Woche ausfallen würden. Das Social-Media-Zeugs könnt ihr gerne aus eurer Betrachtung ausklammern, weil es nicht überlebenswichtig ist. Um es klar zu sagen, ich meine nicht einen generellen Stromausfall oder einen Internet-Ausfall für eine Woche; ich meine nur den Unterbruch von einem dieser Dienste: AWS, Azure oder Google.

Hoffentlich ahnt ihr, was geschehen würde. Ich behaupte, dass die Auswirkung um den Faktor 1000 grösser wäre, als wenn Russland den Gas- und Öl-Hahn für Europa abdrehen würde. Es würde nichts mehr, gar nichts mehr funktionieren. Ins Büro gehen; könnt ihr vergessen. Aus dem Home-Office arbeiten; könnt ihr vergessen. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren; könnt ihr vergessen. Mit einem modernen Auto fahren; könnt ihr vergessen. Ok, das ist anekdotisch; aber fragt doch bitte mal euren Automobil-Konzern, in welchem Rechenzentrum sie die Kontrolle über euer Auto laufen lassen. Nicht zu reden von den ganzen Home-Automation-Appliances: Da gehen keine Rollladen mehr hoch, die Bude bleibt kalt, das Licht ist aus, usw. Bestellt der Kühlschrank noch das Essen für euch?

Vielleicht habe ich übertrieben; vielleicht ist es noch nicht ganz so weit.

Bevor ich es vergesse; Auslöser für diesen Artikel war ein Beitrag bei Heise mit dem Titel: "Google: Microsoft-Monokultur ist in US-Verwaltung ein Sicherheitsproblem. Laut einer von Google lancierten Umfrage sieht die Mehrheit der bei der US-Bundesverwaltung Angestellten die Abhängigkeit von Microsoft-Produkten kritisch."

Quellen:

https://de.wikipedia.org/wiki/Arpanet

https://www.heise.de/news/Google-Microsoft-Monokultur-ist-in-US-Verwaltung-ein-Sicherheitsproblem-6662388.html

Tags

Internet, Internets, Google, ARPANET, Netzwerk, US, Dummheit

Gentoo
Geschrieben von Gentoo am 15. April 2022 um 18:26

Sorry, ich kann dir nicht widersprechen. Ich habe leider das Internet nie gesund erlebt, ich erkämpfe mir ein bisschen was davon, allerdings ist diese Ecke mitlerweile sehr ausgestorben. Das geht soweit dass ich mich auf analoges Zeugs zurückziehe, gezwungenermaßen, auch wenn ich eigentlich Digitalnerd bin. Ich resigniere, egal was ich probiere. Funken ist da ein kleiner Lichtblick, aber ich muss mir wohl langfristig was anderes suchen.

jan
Geschrieben von jan am 15. April 2022 um 19:26

guter Beitrag, gute Infos btw. mailboxen, fidoNet, radioFunkerNet gibs/gabs auch noch die sachen laufen aber heutzutage wohl wenn auch über internet

akf
Geschrieben von akf am 15. April 2022 um 20:21

Wer die Suchmaschine kontrolliert, der beherrscht das denken.

Apropos, was haltet ihr eigentlich von so Suchmaschinen wie Baidu.com oder Yandex.ru ?

Younix
Geschrieben von Younix am 15. April 2022 um 20:29

Vielen Dank für die ebenso drastische wie realistische Darstellung. Es ist genauso, wie Du geschrieben hast. 1995 hat Bill Gates noch gemeint, dass "im Internet nichts zu verdienen ist". Tatsächlich hat Microsoft erst spät die Witterung aufgenommen, sich dann aber sofort und mit Vehemenz an der "feindlichen Übernahme" des WWW beteiligt. Heute ist das Internet eine Spielwiese für durchgeknallte Marketing-Manager, Arbeitsplatz für (Cyber-) Kriminelle, Plakatwand für politische Propaganda, die Käseglocke, unter der der Journalismus in eine toxische Substanz übergeht und ein Füllhorn für Überwachungs-Fetischisten jeder Ausprägung .. und das ist erst der Anfang.

k
Geschrieben von k am 15. April 2022 um 22:35

Der Beitrag trifft (leider) genau meine Haltung zu dem Thema. Ich bin zu jung, um noch ein pulsierendes, dezentrales Web erlebt zu haben. Aber wenn ich mir die Fossilien so anschaue, sehe ich nur Lösungen wo heute Probleme sind:

IRC = die Lösung für die Messenger-Problematik (die die EU jetzt mit Föderationszwang lösen will ... ob das klappen kann?)

NNTP = der Gegenentwurf zu von BigCorps kuratierten (aufmerksamkeitsoptimierten) News-Feeds

Usenet = Warum sollten Diskussionen nur mit Twitter o.ä. sog. sozialen Netzwerken stattfinden können?

E-Mail = Warum braucht es Slack, wenn man stattdessen die E-Mail als Medium für alle hätte modernisieren und weiterentwickeln können?

hugh
Geschrieben von hugh am 16. April 2022 um 10:13

Danke, Ralf, sehr anregend! Ich habe eine Verständnisfrage: Ist es wirklich so, dass der heutige ÖPNV und moderne Pkw nicht mehr fahren würden, fiele ein(er der großen) Diensteanbieter aus? Als Radfahrer kenne ich mich da nicht aus. Über den Rest deines Textes muss ich noch etwas nachdenken ... ;-)

Norbert
Geschrieben von Norbert am 17. April 2022 um 00:35

Ein super Artikel. Spricht mir voll aus der Seele und wie du dir denken kannst stimme ich voll zu

Ralf Hersel
Geschrieben von Ralf Hersel am 17. April 2022 um 22:31

Vielen Dank für eure Zustimmung zu diesem Wochenend-Beitrag. Gerade die jüngere Generation sollte sich bewusst machen, welche Idee mit dem Internet eigentlich verfolgt wurde. Zustimmung zu einem Missstand ist notwendig, aber nicht hinreichend. Hinreichend sind die Bedingungen, die ein freies Internet zurückholen. Vorschläge und Beiträge dazu sind sehr willkommen.

Frank
Geschrieben von Frank am 19. April 2022 um 06:59

Vorschläge: Ab Web 2.0 gings richtig abwärts. Nicht technisch (AJAX ist super), sondern sozial betrachtet, eben wegen Social Media. Hier ist der Haupthebel zur Rückkehr des freien Internets: Reduzierung bishin komplette Abkehr Social Media Nutzung im Internet: Kein Facebook, kein WhatsApp und das andere Gedöhns. Andere Messenger nutzen bzw Nutzung der leider verpönten SMS (hat jeder, offene Technologie, Client-unabhängig, keine Verschlüsselung ok).

Generell Nutzung Alternativen anstelle der big 5. Gibt genügend andere Online-Händler neben Amazon, ich in Deutschland nutzte nur otto.de. Ab und zu mal duckduckgo anstelle Google usw. Geht alles und ist nur minimale Erst-Umgewöhnung.

Naja
Geschrieben von Naja am 19. April 2022 um 10:02

Inhaltlich/technisch stimme ich dir zu. Die abfälligen Äußerungen über andere Menschen (Dummheit, Vieh) trüben das Bild und schaden der Aussage.