Zum Wochenende: Cyberboomer

  Ralf Hersel   Lesezeit: 9 Minuten  🗪 4 Kommentare

Wie man einen guten Artikel mit einem schlechten Titel versauen kann.

zum wochenende: cyberboomer

Vor einigen Tagen lief mir ein Kandidat für das Unwort des Jahres über den Weg: "Cyberboomer". Dieses Wort verbindet zwei an sich schon scheussliche Wortkreationen miteinander: Cyber und Boomer. Das Wort habe ich in diesem Masto-Tröt entdeckt, der auf einen Artikel von gHack mit dem Titel "Das Cyberboomer-Manifest" verlinkt. Meine Auslassungen dazu sind zweischichtig; zum einen möchte ich etwas zu den Worten, und zum anderen werde ich mich zum Inhalt des "Manifestes" kurz äussern.

Während meines Informatik-Studiums habe ich den Begriff "Cyber" kein einziges Mal gehört. Lese ich heute dieses Wort, verbinde ich es mit der Art und Weise, wie Behörden oder Fachfremde über Informatik sprechen. Sucht doch bitte mal nach dem Begriff "Cyber Organisationen" im Internet, dann seht ihr, was ich meine: Projekt Kommando Cyber der Schweizer Armee, Cyber Defence Organisation, Cyberversicherung, usw.

"Cyber" ist die Abkürzung des englischen Wortes "cybernetics", was auf Deutsch mit "Kybernetik" übersetzt wird. Der Begriff wurde Mitte des 20. Jahrhunderts von Norbert Wiener erdacht. Dahinter verbirgt sich die Wissenschaft der Steuerung und Regelung von Maschinen. Das Wort stammt vom griechischen "kybernetes" ab, welches "Steuermann" bedeutet.

Ich möchte dem Begriff seine wissenschaftliche Bedeutung nicht absprechen, doch für mich klingt das Wort sehr altertümlich (was es ja ist) und nur bedingt für die Beschreibung aktueller informationstechnischer oder gesellschaftlicher Phänomene geeignet. Doch lasse ich mich gerne vom Gegenteil überzeugen. Ich gebe hier nur mein Empfinden wieder, wenn ich die Abkürzung "Cyber" höre oder lese.

Beim zweiten Wort "Boomer" ist meine Meinung ausgeprägter.

Bevor ich hyperventiliere, möchte ich den Begriff nüchtern erklären. "Boomer" stammt aus der konstruierten Einordnung von Generationen. Dabei geht es nicht nur um eine Zuordnung zu Altersgruppen, sondern auch um eine Zuschreibung von sozialen Eigenschaften dieser Gruppen. Ihr ahnt den Sprengstoff, der im zweiten Halbsatz enthalten ist. Umgangssprachlich nennt man das auch Schubladendenken, Bias, Vorverurteilung oder schlimmstenfalls Diskriminierung.

Hier ist eine kurze Aufstellung der konstruierten Einordnung der Generationen:

  • Stille Generation (vor 1945 geboren): geprägt durch den 2. Weltkrieg, besser den Mund halten
  • Babyboomer (von 1945 bis 1965 geboren): diszipliniert, karriere- und leistungsorientiert
  • Generation X (1965 bis 1980): ebenfalls leistungsorientiert, aber mit Fokus auf Freizeit und Lebensqualität
  • Generation Y - Millenials (1981 bis 1995): digitale Natives, die Social-Media-Generation
  • Generation Z (1996 bis 2010): leben zwischen Realität und Virtualität, sind global vernetzt
  • Generation Alpha (geboren ab 2011): geprägt durch fortschreitende Digitalisierung und politische Instabilität

Keine der oben genannten Generationsgruppen wurde so sehr negativ konnotiert wie die Babyboomer.

Im Jahr 2019 entwickelte sich in der Netzkultur die Phrase "OK Boomer", welche die konservativen Ansichten und Unbelehrbarkeit für neue Ansätze der Babyboomer kritisierte und Stereotypen über diese Generation aufgriff. Dieser Generationenkonflikt wurde insbesondere in der Thematik rund um den Klimawandel sichtbar. Einige Stereotypen wurden gefördert: Babyboomer würden sich nicht um die jüngeren Generationen und deren Zukunft kümmern, beharren auf ihrer eigenen Meinung und seien nicht technikaffin. Es lohnt sich, diese Stereotypen zu hinterfragen, denn sie basieren auf verallgemeinernden Vermutungen statt Fakten.

Im Begriff "Cyberboomer" findet sich diese Diskriminierung wieder. Damit wird die vermutlich grösste lebende Generation über einen Kamm geschoren. An dieser Stelle möchte ich das Grundwissen aus dem Mathematik- oder Physik-Unterricht in Erinnerung rufen: Induktion versus Deduktion. Wenn es um soziale Systeme geht, ist man mit der Deduktion in der Regel besser beraten, als mit der Induktion. Hier sind zwei vereinfachte Beispiele:

  • Induktion (vom Besonderen auf das Allgemeine schliessen): Ein Kölner stinkt, also stinken alle Kölner!
  • Deduktion (vom Allgemeinen auf das Besondere schliessen): Alle Laubbäume verlieren im Winter ihre Blätter, also verliert auch die Buche im Winter ihre Blätter!

Die Aussage: "Alle Babyboomer sind konservativ, weil man eine Person aus dieser Gruppe kennt, die konservativ eingestellt ist", ist eine unzulässige Induktion.

Doch nun zum erwähnten Artikel von gHack, den ich hier zusammengefasst habe (Achtung, die Zusammenfassung habe ich mit ChatGPT erstellt):

Ich habe bemerkt, dass einige Leute, die von Twitter zu Mastodon gewechselt sind, sich in einem Ton äußern, den ich sonst nur aus dem konservativen Feuilleton kenne. Sie sind ständig genervt und beschweren sich darüber, dass alles hier langweilig ist und voller weißer Nerds. Sie finden es nicht so toll wie früher auf Twitter, wo es aber auch nicht mehr auszuhalten ist wegen der Musk-Nazis. Ich denke mir, dass es hier nicht wie früher ist und dass es auch nie wieder so sein wird. Es entsteht eine neue Identität, eine neue geistige Gemengelage, die sich ihrer selbst noch nicht so richtig bewusst ist. Ich finde sie genauso altbekannt wie schlimm. Ich nenne sie Cyberboomertum.

Die Cyberboomer sind diejenigen, die in den späten 1990ern oder in den 2000ern zum Internetboom gestoßen sind. Das Internet war zu dieser Zeit bereits etabliert und es war einfach und billig, sich damit zu verbinden. Es ging endlos aufwärts und es gab endlose Mengen von Geld und Aufmerksamkeit, die darauf warteten, verteilt zu werden. Es war ziemlich einfach, in dieser Welle mitzuschwimmen und mitzuwachsen und Auskenner zu sein. Man musste nicht mehr am Netz selbst arbeiten, die neuen Rollen hatten sich bereits entwickelt. Das Web 1.0 kam und ging, das Web 2.0 kam und große Unternehmen wie Google, Facebook und Amazon wurden zu neuen Naturgewalten. Es gab auch noch Indie-Betriebe wie Twitter, die wachsen durften. Dank Risikokapital entstanden beinahe täglich neue Wunderwerke des Online-Fun. Alle bemühten sich darum, es den Usermassen möglichst bequem zu machen, aber die hässlichen Aspekte des Werbetrackings wurden gerne ignoriert. Alternative Software wie Diaspora wurde als Nerdquatsch belächelt.

Die Haltung dazu wurde direkt von den Poppern der 1980er übernommen. Wer gebrandet war und viele Follower auf Facebook oder Twitter hatte, gehörte zu den Siegern. Der Erfolg an sich war der einzige gültige Wert. Die Pandemie hat vieles von dem zugedeckt, was man als Äquivalent zu den Ölkrisen im späten 20. Jahrhundert sehen könnte. Das Risikokapital fließt nicht mehr so üppig und wenn, dann nur zu den falschen Leuten. Das Netzwerk wird angegriffen und FOSS funktioniert nur über Quersubvention oder Selbstausbeutung. Der Cyberboomer wird reaktionär und tritt nach unten. Er sehnt sich nach den alten Zeiten und beginnt, Zuckerberg zu lieben. Er ist bereit, viele falsche Dinge zu tun und die Ökosphäre des Internets zu verraten. Der Cyberboomer gibt Gas und will Spaß haben.

Falls ihr die Zeit aufbringen möchtet, empfehle ich den Artikel in voller Länge zu lesen. Meine Analyse bezieht sich nur auf die Zusammenfassung, weil dieser Artikel sonst zu lang wird:

Grundsätzlich stimme ich mit der Aussage des Artikels überein. Auch mit dem staubigen "Cyber" komme ich klar, falls damit die Handlungsweise von sozialen Organisationen gemeint ist. Die Boomer-Attribution passt zweifach nicht: Erstens trifft gHack zeitlich die falsche Generation, weil eigentlich die Generation Y gemeint ist. Zweitens ist die Verwendung des Begriffs "Boomer" als Schimpfwort nicht vertretbar - wie ich oben erläutert habe - und stellt damit die Reflektionsfähigkeit des Autors infrage. Mir ist aufgefallen, dass gelegentlich solche Personen, die sich als progressiv, divers, kritisch und weltoffen darstellen, sich gerade durch ihr "nach unten treten" als das Gegenteil outen.

Der eigentliche Fehler von gHack besteht darin, Generationen nicht aus der Perspektive ihrer Zeit zu betrachten, sondern nur durch die Brille der eigenen Generation. Das sieht man gut an dem Satz über die Popper der 80er Jahre, die gHack mit den Followern verbindet, die erst 40 Jahre später aufgetreten sind.

Mir würde gHacks Artikel gefallen, hätte er oder sie es nicht mit "Cyberboomer" versaut. Schönes Wochenende!

Quellen:

https://eh.antville.org/stories/2312142/
https://de.wikipedia.org/wiki/Kybernetik#Cyber_als_abgeleiteter_Begriff
https://intergeneration.ch/de/grundlagen/generation-x-y-z-ueberblick/

Tags

Cyber, Boomer, Generation, Babyboomer, Cyberboomer, Generationen

Stephan Jaeger
Geschrieben von Stephan Jaeger am 15. Juli 2023 um 05:53

Ich empfehle den Real-Thriller von Claudia Kemfert Schockwellen, Campus Verlag, Luisa Neubauer / Dagmar Reemtsma Gegen die Ohnmacht, Tropen Verlag. Da geht es um die fossile Boomer.

Kevin
Geschrieben von Kevin am 15. Juli 2023 um 11:46

"Mir ist aufgefallen, dass gelegentlich solche Personen, die sich als progressiv, divers, kritisch und weltoffen darstellen, sich gerade durch ihr "nach unten treten" als das Gegenteil outen." Wahre Worte, gelassen niedergeschrieben. Ich würde noch "gelegentlich" durch "häufig" oder "regelmäßig" ersetzen. Umgangssprachlich nennt man das auch Doppelmoral / Heuchelei.

Arjun Leines
Geschrieben von Arjun Leines am 15. Juli 2023 um 22:53

Wenn chat GPT Zeit spart und eine Zusammenfassung innert Sekunden abliefert, dann scheinen wohl auch KI Skeptiker zwischendurch der Versuchung zu erliegen ;)

kamome
Geschrieben von kamome am 19. Juli 2023 um 11:54

Aber da steht doch, um welchen Boom es geht (nicht den Boom der Babyboomer).