Zum Wochenende: Nachruf an die Digital Natives
Fr, 8. Juli 2022, Lian Begett
Im Jahre 2001 ereignete sich nicht nur das Unglück vom elften September in New York City, sondern auch, an einem nebligen Februarmorgen, meine Geburt.
Nach vorzeitiger Hochrechnung bin ich damit zur Stunde 21 Jahre alt und gehöre damit, so wurde es mir zumindest meine Kindheit über versichert, zur ersten Generation der sogenannten "Digital Natives": derjenigen Generation, die von klein auf mit und um Computer herum aufwächst und für die die Bedienung dieser Geräte eine zweite Muttersprache darstellen sollte. Die erste von vielen, die nach ihr folgen sollten, um ein neues Zeitalter des Alphabetismus feierlich einzuläuten und sich die Technik untertan zu machen. Dass diese durchaus interessante Vorstellung allerdings nicht unbedingt der Realität entspricht, sehe ich heute mit dem Erwachsenwerden derer, die auch nur ein paar Jahre jünger sind als ich.
Ein Nachruf auf das, was hätte werden sollen.
Milch und Honig
Was hatte man sich nicht alles von uns versprochen. Für uns "Digital Natives" wäre das, was die Pioniere der EDV sich noch hart erarbeiten mussten, ein von der Wiege auf erlerntes Kinderspiel. Bilder von Schülern, die fleißig an Kernelmodulen schreiben und eine Tastatur bedienen können wie kein Zweiter drängen sich unwillkürlich auf. Man sagte uns nach, anstatt in unserer Muttersprache in Piktogrammen oder sogar in Quellcode zu kommunizieren. Weniger abstruse Vorstellungen von der Zukunft sahen in jedem heranwachsenden Arbeiter einen fähigen EDVler, der ganz selbstverständlich mit den Computerfunktionen umgehen können sollte, die seinerzeit noch denen mit Spezialwissen vorbehalten waren. Jugendliche, die ihre Computer mit derselben Leichtigkeit bändigten wie andere Stift und Papier. Im Bereich der freien Software sah man sich mit der verlockenden Möglichkeit konfrontiert, dass bald unzählige junge Menschen, die mit Tastatur in der Hand aufgewachsen waren, reihenweise Code zu Projekten beisteuern würden. Der allgemeine Trend sollte dazu gehen, dass niemand mehr "keine Ahnung von Computern" haben sollte, da alle damit großgeworden sind.
In gewisser Weise ist das für viele in meiner Generation auch wahr geworden: wir sind mit Videospiel-Modding aufgewachsen, haben uns durch düstere Foren und Internetchats gekämpft, Freundschaften teilweise hauptsächlich online geschlossen. Für uns ist die Bedienung von Computern eine zweite Natur und ich kenne unzählige Altersgenossinnen und Altersgenossen, die wie selbstverständich ihren Computer tagtäglich verwenden, GNU+Linux-Systeme wie Profis bedienen und seit ihrer frühen Jugend an Software schreiben, die sich sehen lassen kann; einfach, weil es dazugehört hat, seine Freizeit wie jeder andere vor dem Computer zu verbringen. Wir hatten persönliche Homepages, die wir mit HTML und CSS zusammengebaut haben wie adoleszente Frontendentwickler. Wir tippen und navigieren uns durch die unterschiedlichsten Nutzererfahrungen und können auf einen Blick Internet-Lingo entziffern, Spam von authentischen Mails unterscheiden und Dinge in Windeseile im Internet suchen und finden. Wir haben dem Nerd-Sein die antisoziale Visage entrissen und es zu einer Selbstverständlichkeit gemacht.
Wo die Theorie der "Digital Natives" allerdings danebenlag, war bei der vorhergesagten Permanenz dieser Tendenz. Wir waren mitnichten die jungen Pioniere, die einen Weg ebnen sollten für Generationen technischer Exzellenz, sondern ein kurzlebiges Phänomen derer, die zwischen Generation Walkman und Generation Chromebook einen kurzen Frühling erleben durften.
Die Realität
In meiner Funktion als Langzeitstudent:in habe ich auch ab und zu die ehrenvolle Aufgabe, jüngere Studierende zwischen Wissensdurst und Leistungsdruck gleichermaßen zu unterstützen. Und dabei sehe ich, obwohl ich ja auch gerade erst einmal einundzwanzig bin, einen gehörigen Unterschied zwischen meiner Generation und der Generation derer, die sich jetzt als siebzehn- bis achtzehnjährige Frischlinge auf den Weg in die akademische Bildung machen.
Im universitären Alltag muss man eben auch mit Computern arbeiten. Simple Vorgänge, das heißt: Dateien suchen, öffnen, bearbeiten, speichern, versenden. Programme installieren, deinstallieren, ab und zu einen Treiber suchen. Bei Fehlern und Aussetzern in die Hände spucken und den Fehlercode online suchen, eine Lösung finden und Danke sagen. All das, was wir als Kinder quasi nebenbei zwischen Hausaufgaben und Abendessen erledigt haben, während wir unsere Freizeit in Lieblingsspiele gesteckt, Freunde in Foren gefunden und unsere Computer uns zu eigen gemacht haben.
Aber das ist für überraschend viele Vertreter der neuen Generation nicht mehr im Bereich des Möglichen. Was mich am meisten erstaunt hat, war das häufig fehlende Verständnis für das Konzept "Dateisystem", sogar Ordner, Verknüpfungen und Dateien. Auf ihren Mobilgeräten sind sie es schließlich gewohnt, alle Dateien in einer großen, nach Änderungsdatum sortierten Liste vorzufinden. Bilder gibt es in der Galerie, Notizen in der Notiz-App, und Emails im Email-Client. Das für mich vollkommen selbstverständliche Konzept "Ordner" ist für diese jungen Erwachsenen ein Novum, ein Relikt der alten Tage, als man sich noch eine große Box auf den Schreibtisch gestellt und in einen Bildschirm geschaut hat, der ebenso groß und unförmig war wie eine Mikrowelle. Fehlerbenachrichtigungen werden weggeklickt, außerhalb von Social Media wird das Internet höchstens für Wikipedia verwendet, und sogar Programme zu installieren gehört für viele der Vergangenheit an. Office? Das machen wir in der Cloud. Mails? Alles ist im Web-Browser der eigenen Wahl zu finden, und meist wird diese Wahl auch nicht bewusst getroffen.
Der Grund dafür scheint offen zu liegen, und es hat nichts mit dem Wissensdurst oder der Intelligenz der jungen Leute zu tun: im Kinder- und Jugendzimmer findet sich eben oft kein Computer mehr, sondern ein Tablet, ein Smartphone und, wenn es hoch kommt, für die Schule ein Chromebook oder MacBook. Selbst der Gaming-Rechner ist immer häufiger ein Konstrukt, das mit proprietären Betriebssystemen betankt die tägliche Arbeit auf das Öffnen von drei, vier "Apps" beschränkt. Foren sind gestorben, Mailinglisten allemal; und wer sich heute nicht auf TikTok, Instagram oder Twitter herumtreibt, könnte praktisch auch unsichtbar sein. Wer hackt sich denn heute noch eine Homepage mit HTML zusammen wie wir dazumal auf MySpace oder auf unseren eigenen Webseiten?
Sicher gibt es auch in dieser Generation diejenigen, die sich im gleichen Maße oder noch mehr mit Computern auskennen wie wir. Nerds wird es immer geben. Und auch in meiner Generation gibt es mehr als genug Computer-Analphabeten und die, die einfach andere Hobbies hatten. Die Vorstellung aber, dass jemand, der 2005 oder 2006 geboren ist, mit dem Konzept eines Ordners nichts anfangen kann, war und ist für mich befremdlich. Die Vorstellung von Digital Natives verläuft sich im Sumpf der undurchsichtigen Benutzererlebnisse der heutigen Zeit.
Rationalisierungen
Das alles ist nicht unbedingt negativ gemeint. Ich will nicht zu denen gehören, die im Jahr 2042 genauso bejammern, wie kein Kind mehr einen USB-Stick zu verwenden weiß, wie jetzt einige Vertreter der älteren Garde den Floppies, den Tapes und dem Schellack hinterhertrauern. Manchmal wird Technik nun einmal obsolet, und wenn das geschieht, wird neue Technik ihren Platz einnehmen. Wir steuern nicht auf einen Verlust an digitalen Fähigkeiten hin; im Gegenteil: je mehr Technologie in unseren Alltag eingebunden ist, desto mehr Kompetenz wird auch in der Gesellschaft daraus erwachsen. Die nachfolgende Generation ist in keiner Weise weniger intelligent oder fähig als wir es in ihrem Alter gewesen sind.
Allerdings halte ich es durchaus für einen beängstigenden Trend, dass Kinder dieser Tage, die Technik durchaus täglich im selben Maße verwenden wie wir, ohne ein Verständnis für ebendiese Technik ihrer eigenen Generation aufwachsen. Dass vielleicht ein Kind, das mit Tablet und Chromebook aufwächst, gar nicht weiß, wie ihr eigenes Gerät funktioniert. Dass sie nicht wissen, dass es mehr als den mitgelieferten Browser, Alternativen zu Clouddiensten, dass es keineswegs nur proprietäre Software und Hardware zu kaufen und laden gibt. Dass man einen Computer nicht nur als Werkzeug, sondern als Spielplatz verwenden kann, als Lebensraum der digitalen Welt. Alles Dinge, die wir notwendigerweise lernen mussten, weil die Technik oft noch nicht so weit war, als dass sie uns ein so abgeschlossenes Erlebnis bieten konnte.
Mit immer weiter verschlossenen Betriebssystemen ist das auch kein Wunder, sondern leider wohl kapitalistische Logik dieser Tage. Je weniger ein Nutzer über die Funktionsweise ihres eigenen Gerätes versteht, desto mehr kann man ihnen auch auf die Nase binden. Wessen digitale Kompetenz sich auf das Frontend beschränkt, also etwa, dass man Bilder in einer bestimmten Galerie-App mit diesen und jenen Funktionen findet, der ist abhängig von diesem spezifischen Betriebssystem und seinen Designrichtlinien. Wer nicht weiß, wie Paketmanagement auf einem iPhone oder auf einem Android-Smartphone funktioniert, der kann auch keine freie Software installieren, die nicht zufällig in den unfreien Stores zu finden ist. Wer keine Ahnung von Dateisystemen und -formaten hat, dem kann man ein Abonnement für eine Cloud-Office-Suite andrehen, weil er nicht in der Lage ist, etwas wie LibreOffice zu installieren, geschweige denn zu nutzen. Und wer nicht weiß, wie man Software patcht und Konfigurationen ändert, der kann auch nicht inoffizielle Patches installieren.
Die jetzt aufwachsenden Kinder werden meist ohne Verständnis und Kompetenz für ihre eigene Technik groß. Während wir unsere Treiberprobleme selbst beheben konnten, müssen die Kinder der neuen Generationen auf offizielle Lösungen warten, weil sie nicht mit der Notwendigkeit oder Möglichkeit aufwachsen, ihre Probleme selbst zu verstehen und in den Griff zu bekommen. Mehr und mehr werden junge Leute völlig abhängig von spezifischen proprietären und/oder bezahlten Software-"Lösungen", die ihnen Stück für Stück ihre Freiheit und ihr Geld nehmen und sie in einen umzäunten Garten sperren.
Genau diese Nische könnte eine solide GNU+Linux-Distribution füllen, die weitläufig von den Massen adoptiert wird. Die ersten Anzeichen dafür gibt es ja bereits: das Steam Deck von Valve als vollfunktionale linuxbasierte Konsole erfreut sich größter Beliebtheit, und ausgerechnet im Bereich Gaming hat GNU+Linux ordentlich Fortschritt gemacht und kann durchaus mit allen anderen Betriebssystemen mithalten. Wenn mit Windows 11 irgendwann ein Abonnement-Modell Einzug hält, könnte das sogar noch mehr Nicht-Power-Nutzer in die GNU-Welt bringen. Das durchschnittliche GNU+Linux-System hat, alleine durch das Konzept der freien Software als kollaboratives und gemeinnütziges Modell, eben nicht das Interesse, für Profitlogik seine Arbeitsweise zu obfuszieren, sondern offenzulegen, damit jeder daran arbeiten kann. Wer ein GNU-System bedienen kann, der weiß schon durch die Betriebsweise allein, wie es funktioniert; und das ist ironischerweise nicht immer schwieriger als ein sogenanntes "benutzerfreundliches" System, sondern führt zu mündigen Nutzerinnen und Nutzern, deren Kompetenzen wie damals erträumt auch heute noch unvorstellbar wären.
Auf den neuen Anlauf des Traumes der Digital Natives; diesmal einen, der Kinder zu naturgegebenen Hackern ihrer digitalen Werkzeuge macht, nicht zu Opfern und Produkten kapitalistischer IT-Konzerne und unfreier Software.