Zum Wochenende: Den Frosch kochen

  Ralf Hersel   Lesezeit: 6 Minuten  🗪 8 Kommentare Auf Mastodon ansehen

Digitale Souveränität erfährt zurzeit einen hohen Stellenwert in europäischen Organisationen. In diesem Beitrag beleuchte ich die Hintergründe und gebe Tipps für die langsame Umstellung in der eigenen Organisation.

zum wochenende: den frosch kochen

Das ist ein Meinungsartikel.

Bevor mir jetzt die Tierschützer aufs Dach steigen: Ich würde niemals einen Frosch kochen und wüsste auch gar nicht, was ich mit einem gekochten Frosch anfangen könnte. Hinter dem Titel steckt die Metapher für einen langsamen Prozess, bei dem die Betroffenen nicht merken, was mit ihnen geschieht. Das Gegenteil davon ist der Big-Bang-Ansatz, bei dem sich von einem auf den anderen Tag alles schlagartig ändert.

In letzter Zeit hört man von vielen Projekten, die die Einführung von Freier Software in Organisationen zum Ziel haben. Hier sind ein paar Beispiele:

  • Österreichs Bundesheer stellt auf LibreOffice um
  • Von LibreOffice bis Linux: Schleswig-Holstein setzt konsequent auf OSS
  • In Frankreich nutzt die Gendarmerie seit Jahren eine auf Ubuntu basierende Eigenentwicklung namens „GendBuntu“, mit mehr als 80.000 Installationen eines der grössten Linux-Projekte im öffentlichen Sektor Europas.
  • Die Stadt Lyon stellt derzeit ihre Bürosoftware auf OnlyOffice um.
  • Weitere Kommunen, etwa Freiburg im Breisgau und Solingen, haben Open-Source-Anwendungen im Bereich Smart City und Verwaltung im Einsatz.
  • Viele Kommunen, z. B. die Stadt Zürich, prüfen zurzeit openDesk, die Office- und Kollaborationssuite, die speziell für die Bedürfnisse in der öffentlichen Verwaltung entwickelt wurde.

Wer nach Beispielen sucht, findet mehrheitlich Organisationen aus dem öffentlichen Sektor, jedoch wenige privatwirtschaftliche Firmen. Dafür mag es verschiedene Gründe geben:

  • Der öffentliche Sektor hat eine Publikationspflicht gegenüber der Bevölkerung, wohingegen Firmen ihre Tätigkeiten nicht offenlegen müssen, ausser es wird vom Aktienrecht gefordert.
  • Die IT-Souveränität ist in Europa aktuell ein grosses Thema, welches auf der politischen Agenda angekommen ist. Wegen des politischen Aspektes, hört man mehr von Behörden, als von Firmen.

Damit wir uns richtig verstehen: Bei den oben genannten Beispielen geht es nicht um Freie Software im Backend, sondern im Frontend. Es geht wieder einmal um das "Jahr des Linux-Desktops". In den vergangenen Jahren ging es bei der Argumentation für Freie Software überwiegend um Kosten, offenen Quellcode und vielleicht auch um die zugrundeliegenden Lizenzen. Diese Argumente haben die Marktakteure nur mässig überzeugt.

Das Souveränitätsargument ist ein wesentlich stärkerer Hebel, weil es auf einer höheren Ebene angesiedelt ist. Hierbei geht es nicht um nerdige Kleinigkeiten, sondern um das grosse Ganze. Wenn der Orange uns nicht mehr mag, stellt er uns AWS, Azure und Microsoft 365 ab, weil er es kann und unberechenbar handelt. Autokraten treffen autokratische Entscheidungen. Wer sich mit dem Hinweis auf bestehende Verträge und Lizenzabkommen beruft, ist naiv. Autokraten halten sich nicht an Verträge, genauso wenig, wie sie sich an das Völkerrecht oder die wirtschaftliche Weltordnung halten.

Um dem Argument der IT-Souveränität mehr Gewicht zu verleihen, lohnt sich ein Blick auf den Democracy Report (PDF), der seit 2017 jährlich vom unabhängigen V-Dem Institut erstellt wird. Der Bericht konstatiert für 2025 ein globales Sterben der Demokratien:

Hier ist noch eine weitere Grafik von Statista, die auch auf dem Democracy Report von 2025 aufbaut:

Es gibt nur noch eine Handvoll Länder, in denen es eine vollständige Demokratie gibt.

Nun stellt sich die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen Freier Software vs. proprietärer Software und Demokratie vs. Autokratie gibt. Ja, den gibt es und er ist selbstverständlich:

Demokratische Prinzipien und Freie Software

Freie Software basiert auf Transparenz, gemeinschaftlicher Entwicklung, Partizipation und der Möglichkeit, Software frei zu nutzen, zu verändern und zu verbreiten. Diese Werte spiegeln grundlegende demokratische Prinzipien wie Gleichheit, Teilhabe und Nachvollziehbarkeit wider. Die Offenlegung des Quellcodes ermöglicht es den Nutzenden, Kontrollmöglichkeiten zu behalten und technologische Macht dezentral zu verteilen, ähnlich wie in einer Demokratie politische Macht verteilt wird. Insbesondere im Bereich staatlicher Software oder in öffentlichen digitalen Prozessen ist Transparenz entscheidend, damit Bürger:innen nachvollziehen können, wie Entscheidungen technisch getroffen werden.

Autokratische Tendenzen und proprietäre Software

Proprietäre Software steht für den entgegengesetzten Ansatz: Der Quellcode ist nicht öffentlich, Anpassungen sind verboten, und die Kontrolle verbleibt bei einem Unternehmen oder einer kleinen Entwicklergruppe. Dies schafft Abhängigkeiten und sogenannte „Black Boxes“, in denen Nutzende nicht nachvollziehen können, welche Regeln oder Funktionen implementiert sind. Darin kann man einen autokratischen Grundzug sehen, da zentrale Instanzen Macht ausüben und partizipative Entscheidungsmechanismen fehlen, was zu weniger Transparenz und Kontrolle für die Allgemeinheit führt.

Wo bleibt der Frosch?

Ich habe mich wieder zu lange mit der Einführung aufgehalten und komme nun endlich zum Kern dieses Artikels. Folgt man dem zuvor Geschriebenen, sollte es doch klar sein, dass die europäischen (die demokratischen) Staaten voll auf Freie Software setzen müssen, um aus einer IT-Perspektive ein Gegengewicht zur fortschreitenden Autokratisierung der Welt zu setzen. Doch wie macht man das?

Diese Frage richtet sich an euch alle, sofern ihr in einer Organisation, Firma oder Bildungseinrichtung beschäftigt seid. Mir ist klar, dass die Möglichkeiten als Schülerin oder Student sehr beschränkt sind. Doch als Angestellte:r hat man die Möglichkeit, Veränderungen anzustossen.

Der Frosch rät davon ab, einen radikalen Wechsel vorzuschlagen. Das langsame Garen ist viel erfolgversprechender. Es gibt viele Anwendungen in einer Organisation, die sich leicht durch Freie Alternativen ersetzen lassen. Hier sind einige Beispiele und Tipps:

  • Häufig wird nach Photoshop gefragt, wenn einfache Bildmanipulationen gewünscht sind. Hier lohnt sich die Frage nach dem Anwendungsfall. Welche Funktionen sind tatsächlich nötig? Falls sich die Wünsche auf einfache Operationen beschränken, kann man Nomacs installieren. Sollten fortgeschrittene Funktionen erforderlich sein, kommt Gimp infrage.

  • Für das Erstellen von Grafiken, braucht man kein Visio. Draw.io liefert für diesen Zweck hervorragende Dienste. Die Anwendung kann man auch lokal installieren.

  • Bei einer alternativen Office-Suite gibt es gleich zwei gute Alternativen: LibreOffice oder ONLYOFFICE.

  • Beim Webbrowser sollte in der Organisation ausschliesslich Firefox zum Einsatz kommen. Aufgrund von Manifest V3 sind Edge und Chrome schon aus Datenschutzgründen auszuschliessen.

Das wird jetzt keine Liste von Alternativen für Freie Anwendungen. Ich möchte nur ein paar Beispiele aufzeigen, mit denen man den Frosch langsam kochen kann. Der wichtigste Punkt bei der Umstellung auf IT-Freiheit, ist das behutsame Vorgehen. Schritt für Schritt kommt man voran. Ich habe noch ein paar weitere Tipps im Köcher:

  • Sprecht das Thema in der Belegschaft an. Hört zu und erkundet, wozu die Kollegen bereit sind.
  • Macht keine Alleingänge. Ihr braucht eine Anzahl von Mitstreitern.
  • Stemmt euch nicht gegen eure IT-Abteilung, sondern bezieht sie ein.
  • Steigt ganz oben in der Organisation ein; am besten auf der höchsten politischen Ebene. Ohne Unterstützung des Managements läuft nichts.
  • Stellt kluge Fragen an die IT-Leitung und an die Firmenleitung, zum Beispiel:
    • Welche Schritte planen Sie, um im aktuellen wirtschaftlichen und politischen Umfeld die existenzgefährdende Abhängigkeit von globalen Technologiekonzernen von unserem Unternehmen fernzuhalten?
    • Wie rechtfertigen Sie die hohen Lizenzkosten für proprietäre Software unseren Kunden und Aktionären gegenüber?
    • Was ist Ihr Plan B für den teilweisen Ausfall unserer US-amerikanischen Software-Lösungen?
    • Wenn Sie morgen eine neue Firma gründen würden, für welche Software-Lösungen würden Sie sich entscheiden.
    • Mit der vollkommenen Abhängigkeit unserer IT von US-amerikanischen Software-Lösungen gefährden Sie mittelfristig den Fortbestand unserer Firma. Sind Sie sich dessen bewusst?
    • Was machen Sie, wenn Microsoft (Adobe, Oracle, Amazon, etc.) morgen unsere Lizenzkosten verdoppelt?

Um es klar zu sagen: Ich schreibe hier nicht aus Erfahrung, sondern gebe lediglich meine Ideen und mein Wunschdenken wieder. Falls ihr in eurer Organisation schon praktische Erfahrungen mit einem sanften Umstieg sammeln konntet, dann schreibt sie bitte in die Kommentare.

Titelbild: https://pixabay.com/photos/frog-cook-meal-kitchen-gourmet-927768/

Quellen: stehen alle im Text

Tags

Souveränität, Demokratie, Umstellung, Organisation, Firma

Jan
Geschrieben von Jan am 20. September 2025 um 09:22

Ich kann Ralf beipflichten. Manchmal ergeben sich auf unerwartete Weise Möglichkeiten, die man nutzen sollte. Hier ist ein Beispiel. Den Chefs ist aufgefallen, dass die Lizenzkosten einen erheblichen Anteil der Fixkosten betragen. Das nutzt man, um proprietäre Software durch günstige oder sogar kostenlose Alternativen auszutauschen. An Windows und Office traut man sich aber nicht ran. Wahrscheinlich ist da die Angst, dass man nicht mehr die Kundendokumente lesen kann. So hat man aber einen großen Anteil der eingesetzten Software ausgetauscht. Den Rest wird man nicht schaffen, da es immer Befindlichkeiten gibt. Es wird auch Totschlagargumente geben, wie: "Datenschutz ist mir egal. Ich will im Wettbewerb gewinnen." oder "Wir müssen das nutzen, sonst hängt uns der Wettbewerb ab." Insgesamt muss man mit dem Erreichten zufrieden sein und auf die nächste Chance warten.

Patrick
Geschrieben von Patrick am 20. September 2025 um 10:27

Hallo zusammen,

ich arbeite in einer IT Abteilung bei einem Wasser ver- und entsorger. Und ich kann aus Erfahrung sagen dass sich Microsoft (ist bei uns einfach der größte teil, mal abgesehen von Oracle) selber abschafft. Jedes mal wenn ein neues Microsoft Programm gebraucht wird , sucht man immer nach alternativen. Visio , ja in einem Office 365 plan, 29,99€ monatlich. Mehrere hundert Euro für office Lizenzen (also o365 apps for enterprise). Was aber nicht ordentlich auf die Terminalserver drauf kann. Weil die Lizenzen ständig raus fliegen und auch die Mehrfachnutzung/ registry Einträge nicht wirken. Das nervt auch irgendwann die Kollegen die einfach nur arbeiten wollen. Ich habe jetzt unterschwellig OnlyOffice auf die Terminalserver installieren können, weil die Kollegen ein pdf Bearbeitungsprogramm brauchten und das von only office ist genial :-) Da exchange jetzt nur noch hybrid wird und teurer. Stellen wir demnächst auf grommunio um (die haben mapi support :-) ) Damit haben wir ja noch vieles anderes was genutzt werden kann , only office für Kollaboration und messenger ist auch dabei und das alles in premise. Ich glaube wenn eine IT Abteilung nur ein bisschen motiviert ist und nicht alles an Dienstleister abgibt , dann sind freie alternativen immer möglich. Und die nevigen Punkte mit denen uns Adobe , Microsoft , Oracle etc das leben schwer macht werden uns immer weiter in einfachere systeme treiben :-)

Philipp
Geschrieben von Philipp am 20. September 2025 um 10:49

Ob ein Programm nun Open Source oder Proprietär ist, sagt zunächst nichts über die Funtionalität, Qualität oder Souveränität aus, sofern die Software ihre Aufgabe erfüllt. Weil Programme kompiliert und in binären Maschinencode übersetzt werden müssen, liegt es in der Natur der Sache das viel Proprietäre Software existiert.

Das Souveränitätsargument - und damit die Zunahme der Wichtigkeit von Open Source - erscheint mir jedoch durch die folgenden aktuellen Entwicklungen immer mehr an Bedeutung zu gewinnen:

  • Die Programme werden immer größer und komplexer. Teile unseres Lebens werden durch Algorithmen bestimmt. Ohne FOSS fehlt es hier an der notwendigen Transparenz und wir verlieren die Kontrolle. Ganz wichtig ist diese Transparenz in der öffentlichen Verwaltung und es ist absolut unverständlich und gefährlich das dort weiterhin so viele closed-source Programme zum Einsatz kommen.
  • Die Umstellung vieler großer Software-Anbieter auf monatliche Mietzahlungen (Subskriptions-Modelle / SaaS), die ihre Kunden damit faktisch enteignen. Die Anbieter können nicht nur ihre Preise jederzeit beliebig ändern sondern auch morgen den Zugang, für jemanden der ihnen nicht passt kappen oder ihren Dienst für ein ganzes Land abschalten oder komplett einstellen. Was dann?
  • Ausufernes Benutzer-Tracking und die stetige Zunahme der ungewollten Erfassung und Übermittlung von sogenannten "Telemetriedaten" & "Observabilty" unter dem Deckmantel der angeblichen Produktverbesserung, die jedoch zu 98% Benutzerspionage sind. Inzwischen gibt es kaum noch Software ohne intern integrierter Benutzerdatenauswertung und ganz schlimm sind mobile Apps mit den ganzen Werbe- und Verfolgungstrackern. Hier könnt ihr Apps aus dem Playstore testen https://reports.exodus-privacy.eu.org/de/
  • Das unablässige "pushen" wirklich alles und jeden kleinen Kram in eine CLOUD (= Computer eines anderen) zu packen. Aus reiner Bequemlichkeit geben viele die volle Souveränität über ihre eigenen Daten auf. Vermutlich bemerken, wissen oder stört es viele Benutzer gar nicht mehr! Man müsste nochmal zwischen eigenen Cloud-Servern und der verschlüsselten Datenablage auf fremden Cloud-Servern differenzieren aber ich beziehe mich damit auf das generelle Souveränitäts-Unbewusstsein von gefühlt mehr als 90% aller Cloud-Nutzer. Und das fängt heute schon bei der Einrichtung eines Apple oder Android-Telefons an, wenn die Leute dort ein Konto einrichten!
Armakuni
Geschrieben von Armakuni am 20. September 2025 um 14:12

> Der Orange

Das hat mir den Tag versüßt, danke dafür. Selten so herzhaft gelacht...

thomy46
Geschrieben von thomy46 am 20. September 2025 um 17:01

Ich habe den Link zu deinem Beitrag "Frosch" ans ILZ.ch geschickt. Mir ist aufgefallen, dass die Kantone OW u NW mit ihren Gemeinden das ILZ fraglos finazieren. Auch habe ich vor langer Zeit dem ILZ ein Mail geschickt mit der Frage ob sie wissen was FOSS und Linux ist und sich damit beschäftigen. Ich war in Spechstunde von Gemeindepräsident in Alpnach. Er hat keine Ahnung von Linux ! Er sagt das ILZ macht alles für die Kantone, er kümmert sich nicht darum. Ein E-Mail an die GemeindeVerwaltung Alpnach wurde nicht beantwortet. Schönes WE Thomas

Bostaurus
Geschrieben von Bostaurus am 21. September 2025 um 15:00

Vor wenigen besuchte ich die IT-Abteilung der deutschen Stadt Treuchtlingen (Bayern, Franken) als Mitglied einer interessierten Gruppe. Wir waren alle positiv überrascht, wieweit dort die Verwaltung der Stadt sowie ihrer Dienstleistungen auf Open-Source-Basis geschieht. Auch wurde uns klar, welche Möglichkeiten die rechtlichen Konstruktionen von Open-Source bieten, wenn Kommunen selber Software weiter entwickeln oder für Verwaltungszwecke optimieren, wenn sie bereit sind, mit den IT-Abteilungen anderer Städte und Gemeinden zu kooperieren. Unter journalistischen Gesichtspunkten ist das dort mindestens einen ausführlichen Artikel wert oder gar eine Reihe. (https://www.treuchtlingen.de/verwaltung/stadtverwaltung/zentrale-verwaltungsdienste/edv-abteilung)

Peter
Geschrieben von Peter am 23. September 2025 um 22:34

Das mit dem Frosch der nicht merkt, dass er gekocht wird, ist übrigens ein Märchen. Bei genanntem Versuch hat man dem Frosch die Beine "entfernt" ;)

Ralf Hersel Admin
Geschrieben von Ralf Hersel am 23. September 2025 um 22:39

Das ist korrekt, was nichts an der gemeinten Metapher als Bild und Warnung ändert.