Zum Wochenende: Die Gedanken sind frei
Fr, 1. Juli 2022, Ralf Hersel
Als Ergänzung zur Podcast-Folge 024, die heute Mittag erschienen ist, gibt es diesen Artikel. Tatsächlich gab es zuerst diesen Artikel, bevor wir im Podcast über das Thema gesprochen haben.
Die Gedanken sind nicht frei. Wer das nicht glaubt, dem empfehle ich die Lektüre des Buches Homo Deus von Yuval Noah Harari. In Teil 3, Kapitel 8, weist Harari sehr überzeugend nach, dass Gedanken und Handlungen das Ergebnis von elektrochemischen Prozessen im Gehirn sind. Diese Erkenntnis führt zu der Schlussfolgerung, dass das Bild von der freien Entscheidung des Individuums ein Trugschluss ist. Unsere Gedanken sind eine Funktion: f(x) = g, s, u. Also das Ergebnis von genetischer Prägung, Sozialisation und der Umwelt (Lebenserfahrung). In aktuellem Zusammenhang dazu, steht die Frage, ob Maschinen ein Selbstbewusstsein haben können.
Der Auslöser für diesen Artikel, ist die Diskussion über den Fall LaMDA, der seit einigen Wochen in den Medien kursiert. Kurz gesagt, geht es darum, dass ein Google-Mitarbeiter (Blake Lemoine) dem Language Model for Dialogue Applications ein Bewusstsein zugesprochen hat. Ich möchte hier nicht auf den Unterschied zwischen Bewusstsein und Selbstbewusstsein eingehen, sondern beziehe mich auf Letzteres, weil dieser Begriff eindeutiger ist. Wer sich dennoch dafür interessiert, möge hier nachschauen.
Können Maschinen ein Selbstbewusstsein haben?
Bevor ich auf diese Frage eine Antwort gebe, möchte ich zuerst den Begriff Selbstbewusstsein definieren: "Die Fähigkeit zur Wahrnehmung des eigenen Ichs". Diese Fähigkeit wird nur hoch entwickelten Lebensformen zugestanden, z. B. Menschenaffen oder Menschen. Eine gängige Methode zum Nachweis von Selbstbewusstsein ist der Spiegeltest, in dem der Proband (Hund, Katze, Mensch) ein nur im Spiegel sichtbares künstliches Merkmal erkennen und darauf reagieren soll: "Ralf reisst sich den roten Aufkleber von der Stirn ab".
Diesen (und weitere) Tests bestehen nur Lebensformen mit einem ausgeprägten Neocortex (Grosshirnrinde). Daraus leitet man ab, dass eben dieser, eine notwendige Voraussetzung für die Fähigkeit des Selbstbewusstseins ist. Es geht nicht darum, ob ein Neocortex vorhanden ist oder nicht, sondern um die Komplexität dieser Hirnregion. Komplexität spielt im weiteren Verlauf dieses Artikels eine wichtige Rolle.
Der Neocortex ist ein biologisches Gebilde, welches die Funktion eines neuronalen Netzwerkes abbildet. Dieses Netzwerk ist trainiert (f(x) = g, s, u) und wird laufend weiter trainiert. Dafür sorgt die angeschlossene Sensorik: Haut, Augen, Nase, Ohr, Geschmack, internes Körperfeedback. Um diese Eindrücke zu verarbeiten, stehen dem menschlichen Gehirn ca. 100 Milliarden Nervenzellen zur Verfügung. Auf einem Raspberry Pi bringt ihr das nicht zustande.
Die grössten künstliche neuronale Netzwerke sind GTP-3 mit 175 Milliarden Neuronen, GTP-4 wird im Juli oder August produktiv, mit max. 280 Mrd. Neuronen, Nvidias Megatron-Turing NLG mit 530 Mrd. Neuronen und Googles PaLM Netz mit 540 Mrd. Neuronen. Die Angaben zu diesen Systemen sind sehr unterschiedlich, weshalb ich keine Gewähr zu den Zahlen abgebe. Wichtig ist, dass es sich dabei um NLPs handelt; sie wurden nur auf Spracherkennung und -transformation trainiert. Dazu werden sie mit ca. 500 Mrd. Text-Tupeln aus dem Internet (Crawler, Wikipedia, Bücher, usw.) gefüttert.
Die Zahlen der aktuellen künstlichen Neuronetze mögen beeindruckend hoch sein. Man darf jedoch nicht vergessen, dass sie überwiegend für Sprachverarbeitung trainiert wurden/werden. Zu beachten ist auch, dass sie keine Lebenszeit mit jahrelanger Rückkopplung hinter sich haben. Im Gegensatz dazu wird ein Menschengehirn mit viel breiter ausgelegten Daten trainiert (siehe oben: die sechs Sinne). Ausserdem hat unser Gehirn den Vorteil der ständigen Rückkopplung und Korrekturmöglichkeit.
Szenenwechsel. Woraus besteht ein Mensch?
Der Leib des Menschen besteht aus 13 Grundstoffen, 5 gasförmigen und 8 festen. Die ersteren sind Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Chlor und Fluor, die festen: Kohle, Calcium, Phosphor, Schwefel, Kalium, Natrium, Magnesium und Eisen. Den Hauptbestandteil bildet der Sauerstoff in einem Zustande äusserster Verdichtung.
Das hört sich doch gut an. Lasst uns einen Menschen bauen!
Nun zur Antwort auf die Frage, ob Maschinen ein Selbstbewusstsein haben können. Die Antwort lautet 'Ja'. Aus einer systemischen Sicht betrachte ich Selbstbewusstsein als ein Monitoring der Gehirnprozesse. Voraussetzung dafür sind:
- vielfältige und massenhafte Trainingsdaten
- die Fähigkeit zur Selbstorganisation des Systems
- eine hinreichende Komplexität (100 Mrd. Neuronen scheinen genug zu sein)
Diese Voraussetzungen treffen auf Gehirne von Menschen und einigen Primaten zu; evtl. auch auf weitere hoch entwickelte Lebensformen. Bei der Bewusstseinsbildung im Gehirn ist das Zusammenspiel von ca. 30 unterschiedlichen Arealen nötig.
Es existiert kein übergeordnetes Zentrum, das die Ergebnisse der verschiedenen Areale miteinander vergleicht und koordiniert. Deshalb ist auch nicht anzunehmen, dass das Bewusstsein als höchste Instanz des Gehirns von einem bestimmten Ort aus die ihm untergeordneten Bereiche steuert. Vielmehr wird angenommen, dass es sich um ein Zusammenspiel der Areale im Gehirn handelt. Das allein reicht aber noch nicht aus. Bewusstsein entsteht nur dann, wenn das dezentrale Zusammenwirken einen hohen Grad an Komplexität erreicht und so zu einer neuen Form der Selbstorganisation führt. Das Ergebnis ist eine Art "Inneres Auge", das sich selbst beobachten kann und dadurch Wahrnehmung, Denkprozesse, Gefühle und Handlungen bewusst macht.
Vor drei Tagen hat einer der Pioniere der KI, Yann LeCun (KI-Chef bei Meta), ein bemerkenswertes Dokument zum Thema geschrieben. Darin erklärt er, dass zum einen das Zusammenspiel unterschiedlicher Inputs wichtig ist und zum anderen beschreibt auch er die interne Rückkopplung (Inneres Auge), welche er "Konfigurator" nennt. Im Gegensatz zu sprach-trainierten Modellen, folgt er dem AGI-Ansatz (Artificial general intelligence), dem ein Weltmodell, bzw. der "Gesunde Menschenverstand" zugrunde liegt.
System-Architektur für eine autonome Intelligenz, Yann LeCun
Alles, was ich bisher beschrieben habe, ist auch mit künstlichen Systemen möglich. Die Grundbausteine (auf atomarer Ebene) sind bei Lebewesen und Maschinen identisch. Die Komplexität ist auf einer vergleichbaren Ebene angekommen. Einzig bei der Trainingsdauer, den Trainingsdaten (Vielfalt plus Menge) und der Rückkopplung hinken die KI's noch hinterher.
Wer neben den wissenschaftlichen Voraussetzungen (Physik, Biologie) noch andere Aspekte geltend machen möchte, hat einen Punkt. Dann reden wir über metaphysische Begriffe wie Seele, Glaube, Religion und den "göttlichen Funken", der uns zu selbstbewussten Wesen macht.
Nur ein lebendes Wesen kann ein Bewusstsein haben.
Was für ein Unsinn. Warum soll das Bewusstsein an ein lebendes Wesen gebunden sein? Dafür gibt es nicht die geringsten Anzeichen. Deshalb lehne ich solche Argumente ab, weil sie weder beweisbar noch der Diskussion zuträglich sind. Solche Behauptungen entspringen einer Überschätzung des Menschseins.
Der Artikel kommt zu einem Ende, und ich muss den Bogen zu freier Software schaffen. Zwei Sachen: Erstens sollten wir als Community immer ein Auge auf die relevanten und gesellschaftsverändernden Technologien richten. Deshalb verweise ich auf die Logbuch-Netzpolitik Folge 432, in der die Überwachung der Algorithmen das Thema ist. Zweitens frage ich mich, welchen Anteil Freie Software an den grossen neuronalen Netzwerken hat, die demnächst unsere Entscheidungen übernehmen werden. Die Gedanken sind nicht frei.
Fazit
- Ich halte LaMDA weder für intelligent noch für selbstbewusst, sondern lediglich für beeindruckend.
- Ich sehe keinen Grund, warum eine Maschine kein Bewusstsein entwickeln sollte.
Nachtrag
Wer sich für dieses spannende Theme interessiert, der empfehle ich diese Folge des SRF Digital Podcasts.
Quellen:
- https://www.wissenschaft-im-dialog.de/projekte/wieso/artikel/beitrag/wo-im-menschlichen-gehirn-ist-das-bewusstsein-lokalisiert/
- https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/gehirn-nervensystem/bewusstsein/
- https://arxiv.org/abs/2201.08239
- https://www.heise.de/news/Chatbot-LaMDA-Hat-diese-Google-Software-wirklich-ein-Bewusstsein-entwickelt-7142599.html
- https://cajundiscordian.medium.com/is-lamda-sentient-an-interview-ea64d916d917
- https://de.wikipedia.org/wiki/Bewusstsein
- https://de.wikipedia.org/wiki/Spiegeltest
- https://de.wikisource.org/wiki/Woraus_besteht_der_Mensch%3F
- https://towardsdatascience.com/gpt-4-is-coming-soon-heres-what-we-know-about-it-64db058cfd45
- https://www.heise.de/hintergrund/Deep-Learning-Pionier-LeCun-glaubt-an-neuen-Weg-zur-allgemeinen-KI-7153533.html?seite=2
- https://openreview.net/pdf?id=BZ5a1r-kVsf
- https://en.wikipedia.org/wiki/Artificial_general_intelligence
- https://www.jaai.de/post/mensch-oder-maschine-der-turing-test-einfach-erklaert