Zum Wochenende: Was gestohlene Brieftaschen mit freier Software zu tun haben

  Fabian Schaar   Lesezeit: 6 Minuten  🗪 5 Kommentare Auf Mastodon ansehen

Müssen sich Anwender dafür rechtfertigen, unfreie Programme zu nutzen? Oder liegt das Problem eigentlich an einer ganz anderen Stelle?

zum wochenende: was gestohlene brieftaschen mit freier software zu tun haben

Hinweis: Das ist ein Meinungsbeitrag.

Es ist schon eine Weile her, da hat Tim an dieser Stelle über die „unfreie Gesellschaft“ geschrieben. In seinem Wochenend-Beitrag hat er damals diskutiert, ob man unfreie Software nutzen oder verteufeln sollte. Proprietäre Software verteufeln… Wer das liest, hat doch direkt einen wütenden Richard Stallman vor Augen, der sich mit einigem Elan darüber auslässt, dass es doch bitte „freie Software“ statt „Open Source“ oder auch „GNU/Linux“ statt einfach nur „Linux“ heißen sollte.

Für seine strikten Ansichten und die konsequente Umsetzung seiner eigens aufgestellten Prinzipien wurde Stallman in der Vergangenheit häufig belächelt. Vielleicht lag das auch an seiner teils exzentrischen Art. Doch wer sich mit freier Software auseinandersetzt, gerät früher oder später eben auch in Diskussionen, die diese eine zentrale Frage aufwerfen: Bis zu welchem Grad sollten wir die Prinzipien freier Software und freier Lizenzen beachten, wenn wir unseren Computer nutzen?

Sich damit auseinanderzusetzen, wirkt manchmal beinahe unausweichlich. Zumindest, wenn man die Programme, die auf dem eigenen Rechner laufen, auch von einer ethischen Perspektive aus beurteilt. Wenn man darüber nachdenkt, wie eigentlich das Verhältnis ist, zwischen denen, die Software entwickeln und jenen, die diese nutzen.

Muss ich mich rechtfertigen?

In unzähligen Vorträgen hat Stallman bisweilen erörtert, dass nur freie Software ihren Anwendern erlaubt, die volle Kontrolle über ihren eigenen Rechner auszuüben. Nur freie Software verhindert, dass sich der Programmierer einer Anwendung durch dessen Weiterentwicklung in eine unfaire Machtposition gegenüber den Nutzerinnen und Nutzern begeben kann, meint Richard Stallman.

Im Grunde ist das der Kerngedanke der FOSS-Bewegung, vielleicht auch der Impuls, der sie überhaupt losgetreten hat. Doch entspricht es auch noch diesem Kerngedanken, wenn man glaubt, sich als Linux-Enthusiast vor anderen dafür rechtfertigen zu müssen, doch mal ein proprietäres Programm einzusetzen?

Auf meinem Rechner sind neben vielen freien Schriftarten auch proprietäre Fonts installiert. Wenn ich durch das Web surfe, steuere ich regelmäßig auch Seiten an, die JavaScript verwenden – unfrei lizenziertes JavaScript vermutlich. In meinem Firefox läuft ein proprietäres Plug-in und auf meinem Android-Smartphone… Gut, davon brauche ich erst gar nicht anzufangen. Muss ich mich jetzt dafür erklären?

Manchmal können einem Kommentare im Internet dieses Gefühl vermitteln. Manchmal kann die Sprache, die etwa Stallman an den Tag zu legen scheint, genau einen solchen Eindruck hinterlassen. Manchmal lese ich auch in den Matrix-Räumen von GNU/Linux.ch, dass jemand proprietäre Software nutzt – und einen Satz später folgt dann die Rechtfertigung. Muss das sein?

Klar, wenn Software unfrei lizenziert ist, fehlt es schnell an Transparenz. Es ist dann schlicht nicht nachvollziehbar, ob schädlicher Code eingeflossen ist, der die Rechte der Anwender verletzen könnte. Ohne einen überprüfbaren Quellcode, stellen sich die Herausgeber der Software indirekt selbst unter Generalverdacht. Aber eine Frage muss erlaubt sein: Was hat das eigentlich mit den Nutzerinnen und Nutzern zu tun?

In der Realität ist es doch so: Wenn jemandem die Brieftasche gestohlen wird, beschuldigt auch niemand das beklaute Opfer – sondern eher einen möglichen Tatverdächtigen. Was bringt es also, den Nutzern unfreier Software ihr Verhalten vorzuwerfen? Wenn proprietäre Programme Daten abgreifen, nach Hause telefonieren oder Werbung zeigen – dann ist der Anwender der Geschädigte, nicht der zu beschuldigende Täter.

Was soll das Schulkind sagen?

Hört man genau hin, ist das auch die Essenz dessen, was Stallman predigt: Freie Software ist der Ausweg aus der Unfreiheit der Nutzer – aber für die Entwicklung proprietärer Programme können nur die Entwickler etwas. Stallman ruft doch in Wirklichkeit dazu auf, unfreie Software zu boykottieren, damit das Entwicklungsmodell dahinter aus der Mode kommt.

Jemanden an den Pranger zu stellen, weil er proprietäre Software nutzt – das hilft im Endeffekt niemandem. Was soll denn das Schulkind sagen, dem Windows 10 und eine veraltete Word-Version vor die Nase gesetzt werden? Freie Programme können oft auch nicht nachinstalliert werden, weil solche Systeme häufig extrem vernagelt sind.

Für viele Nutzer war ihr erster Kontakt mit Computern vermutlich geprägt von unfreier Software. Ihnen die eigenen Nutzungsgewohnheiten vorzuwerfen, führt nur zu Unverständnis und zeugt von mangelndem Einfühlungsvermögen: Wir alle haben einmal angefangen, wir alle waren mal neu in der Linux-Welt, ein Großteil der Leserschaft hier hat wohl schon einmal unfreie Software verwendet oder verwenden müssen.

Hinzu kommt: Von grantigen Kommentaren im Netz ist noch kein Anwender Linux-Fan geworden. Durch derartiges Verhalten zeigt sich eine eigentlich recht offene Gemeinschaft nun wirklich nicht von ihrer besten Seite – und derartiges Verhalten erweist den Gedanken hinter freier Software einen Bärendienst.

Begeisterung statt Gemecker

Es tut weh, sich das einzugestehen, aber: Die FOSS-Community hat seit langer Zeit ein Problem mit elitärem Gehabe und abfälligem Verhalten. Wer sich so präsentiert, braucht sich nicht wundern, dass der Prozentsatz der Linux-Nutzer einstellig bleibt.

Mit seiner uneingeschränkten Konsequenz ist es Richard Stallman gelungen, eine soziale Bewegung zu starten. Bemerkenswert ist, dass er seine Maßstäbe als Erstes an sich selbst anlegt. Stallman zwingt niemanden, freie Software zu nutzen – außer sich selbst. Genau damit bietet er ein Beispiel, genau diese Verbissenheit braucht es, damit Fortschritt in einer Welt voll proprietärer Programme stattfinden kann.

Stallman vermittelt eine Idee, die sich für den Nutzer einsetzt. Dafür, dass dieser nicht durch den Entwickler als Cashcow, Versuchskaninchen oder ähnliches benutzt wird. Damit zu rechtfertigen, sich gehässig zu verhalten, etwa gegenüber Windows- und Mac-Nutzern, ist unreflektiert. In der FOSS-Community bräuchte es heute Selbstreflexion. Denn nur so kann Begeisterung geschaffen werden. Und das wollen wir doch, oder?

Beitragsbild von cocoparisienne via Pixabay.

Tags

FOSS, FLOSS, Stallman, Community, Begeisterung, Wochenende, Meinung

El Pollo Diablo
Geschrieben von El Pollo Diablo am 17. Mai 2024 um 21:43

Vielen Dank für den Artikel und die damit einhergehenden Denkanstöße.

Ich bin bei weitem nicht so lange in die Linux Welt eingetaucht, als dass ich aus den den vielen Jahren Erfahrung des Autors oder gar eines Richard Stallmanns schöpfen könnte, daher erlaubt mir eine vielleicht blauäugige Frage.

Entspricht es denn der Realität, dass die Linux Community in der Haltung zu FOSS vs. unfreier Software so toxisch aufgestellt ist, wie es dieser Artikel vermuten lässt? ODER befindet sich vielleicht nur ein kleiner aber lauter Teil ebendieser Community in einer Filter-Bubble und misst dem Thema mehr Relevanz zu, als es der Realität entspricht?

Ich kann nur aus meiner Historie mit FOSS und auch mit Linux schöpfen, aber in den nun mehr zwei Jahren aktiver Teilnahme an der Linux-Gemeinschaft und dem aktiven Einbringen in die Linux Forenkultur habe ich nicht den Eindruck, dass FOSS oder eben nicht FOSS ein Zankapfel ist. Vielleicht bewege ich mich aber auch nur in sehr liberalen Portalen und Foren, in denen dieser Eklat keine bedeutende Rolle spielt.

FOSS steht für Freiheit. Und warum sollte diese Freiheit nicht auch die Freiheit bedeuten, sich selbst und mündig eben für eine vollumfänglich freie, teilweise freie oder gar unfreie Lösung zu entscheiden? Ich sehe den großen Pluspunkt an FOSS gerade darin, dass mir als mündiger Mensch eben diese Wahl gegeben wird.

Wie in vielen anderen Lagen des Lebens gehen wir auch bei der Wahl der Software einen Vertrag mit der Gegenseite ein. Als mündiger Mensch obliegt es uns, den Bedingungen dieses Vertrages zuzustimmen und diese Software zu nutzen oder den Vertrag auszuschlagen und nach einer besseren Alternative zu suchen. Gerade die Möglichkeit einer Wahl sehe ich als eine große Errungenschaft von FOSS.

Just my two cents ...

Euer Hähnchen

Christoph
Geschrieben von Christoph am 17. Mai 2024 um 22:13

Ich finde nicht, dass die FOSS-Community ein Problem mit elitärem Gehabe hat. Das kommt sicher vor, aber zum Beispiel hier auf gunlinux.ch ja eher nicht, oder? Das Problem ist ein grundsätzlicher Denkfehler. Die FOSS-Community präsentiert Software vordergründig als ein Hobby - als etwas, mit dem man sich freiwillig in seiner Freizeit auseinandersetzt. Es gibt aber zahllose Leute, denen a) die Grundkenntnisse und b) auch das Interesse dafür fehlen, sich aktiv mit Software auseinanderzusetzen. Darauf reagiert die FOSS-Community wiederum verständnislos: Man muss sich doch dafür interessieren, weil unsere Freiheit davon abhängt. Es ist leicht zu sehen, dass dieses Argument entweder auf wohlwollende aber folgenlose Zustimmung oder aber auf Genervtsein stösst, weil es halt eine weitere Stimme im Chor der moralistischen Aktivisten wahrgenommen wird. Vielleicht ist Open Source ja auch gar nicht die Lösung: Stallman geht von zwei impliziten Voraussetzungen aus:

  1. Nutzer können und wollen wirklich die volle Kontrolle über ihren Computer haben.
  2. Die Macht, welche Softwarehersteller mittels closed source ausüben, wird von diesen früher oder später zum Nachteil der Nutzer missbraucht.

Ob beides notwendigerweise so ist, darüber lässt sich diskutieren. Ich würde mal behaupten, dass kein normaler Anwender wirklich Kontrolle z.B. über den Linux-Kernel hat. Das ist reine Theorie. Selbst wenn ich ihn selbst kompiliere, bin ich letztlich auf die Treiber, die es gibt, angewiesen. Oder ein anderes Beispiel: KDE hat jahrelang Daten beim Kopieren auf externe Festplatten verloren. Der Fehler ist, solange ich KDE benutzt habe, nie behoben worden. Hätte ich ihn selbst beheben können? Nein, nicht wirklich.

Zu 2.: Ich habe jahrelang den Dateimanager Total Commander auf Windows verwendet. Shareware und Closed Source. War ich super zufrieden damit und habe einmal eine Lizenz gekauft. Brauche ich jetzt nicht mehr, weil ich kein Windows mehr verwende, aber gäbe es die Software für Linux, würde ich Total Commander sofort wieder verwenden. Auf der anderen Seite; klar, was Microsoft mit seinen Benutzern macht, verstösst m.E. mindestens gegen die guten Sitten. Vielleicht wäre ja die strenge Kontrolle politischer Institutionen über Softwarehersteller die Lösung, um solche Praktiken wie die von MS zu vermeiden?
Einfach mal so als Gedankengang. Man soll je immer liebgewonnene Prinzipien auch mal hinterfragen...

Daniel
Geschrieben von Daniel am 10. September 2024 um 00:22

Ich würde freie Software eher als frei im Sinne von Meinungsfreiheit interpretieren. Auch hier bleiben immer gewisse Einschränkungen. Schlussendlich ist es unrealistisch, dass jeder alles sagen darf. Dennoch ist das Konzept hinter Meinungsfreiheit sinnvoll. Man sollte sie keinesfalls abschaffen, selbst wenn jemand meint, nichts zu sagen zu haben. Sollte sich das ändern, kann er jederzeit auf dieses Privileg zurückgreifen.

Mit Freier Software ist es ähnlich. Zumal es ja nicht nur darum geht, jede Komponente restlos zu kontrollieren. Sondern z.B. um Anpassungen. Auch der Laie kann jemanden beauftragen, weil es freie Software uneingeschränkt ermöglicht.

Das große Problem ist: Wenn du es brauchst, kannst du aus unfreier Software nicht mal eben freie "machen". Ähnliches haben wir mit der Redefreiheit. Zumal bei kommerziellen Interessen immer ein Fokus auf den Marktführer besteht. Bestimmte Software existiert derzeit nicht mal in proprietärer Form für z.B. GNU/Linux, weil es sich finanziell nicht lohnt.

Einen ähnlichen Effekt haben wir an anderer Stelle: Sobald eine kritische Mehrheit ein Quasi-Monopol nutzt, kommt irgendwann der Wendepunkt, an dem die Freiheit eingeschränkt wird. Beispielsweise der Digitalzwang. Für jene die damit kein Problem haben, ist Digitalisierung eine tolle Sache. Der Rest wird mehr oder weniger dazu gezwungen, wenn man z.B. keine Busfahrkarten mehr kaufen kann, ohne digitale Spuren zu hinterlassen.

Auch das findet sich in Software wieder, ein Beispiel: Secure Boot. Wird im Kern von Microsoft kontrolliert. Mit dem Shim hat es GNU/Linux geschafft, am seidenen Faden von MS geduldet zu sein. Andere Betriebssysteme sind praktisch raus. Damals hieß es, wer all das nicht möchte, soll Secure Boot abschalten. Seit Windows 10 fordert MS jedoch nicht mehr, dass eine Option zum Abschalten besteht. Die Hardware-Hersteller können selbst entscheiden, ob sie das noch anbieten. Über zig Jahre wird die Luft also immer dünner für die anderen, die möglichst freie, unabhängige Software nutzen möchten. Während die Mehrheit der Windows-Nutzer davon wohl gar nichts mitbekommen haben dürfte.

Und ja, es gibt alternative Firmwares. Die unterstützen leider nur bestimmte Hardware, wodurch die Auswahl deutlich eingeschränkt wird. Das entfernt uns immer mehr vom ursprünglichen PC, bei dem der Nutzer jene Software installiert, die er möchte. Stattdessen hin zu mehr und mehr geschlossenen Systemen, die voller unfreier Software von großen Konzernen dominiert werden.

this.ven
Geschrieben von this.ven am 17. Mai 2024 um 23:14

Hi, ich glaube, dass einerseits Selbstreflexion fehlt, andererseits erfahre ich als Freie Software Enthusiast, der zudem wert auf Privatsphäre und Datenschutz legt, jedoch auch häufig, dass ich mich rechtfertigen muss, warum ich nicht die "normalen" Dienste oder Programme nutze, wenn ich mit Windows- und Mac-Nutzer:innen zusammenarbeite. Und häufig gibt es ja (bewusst) keine Kompatibilität zwischen bspw. Microsoft-Produkten und irgendetwas Anderem. Als Freie Software Mensch (mit hohem Datenschutzbewusstsein) fühlt man sich dann nicht in seinen Bedürfnissen und die daraus getroffenen Entscheidungen respektiert. Für die Anderen bedeutet es in so einer Situation häufig sich auf eine Freie Software Alternative einzulassen und viele sehen darin keine Sinn oder finden Gründe warum die Alternative eher zweite Wahl ist. Insbesondere, dann wenn sich eine Mehrheit hier an die "Extrawünsche" weniger oder eines Einzelnen anpassen soll. Manchmal ist das sogar mit einer einzelnen Person schon nicht verhandelbar. Das elitäre Gehabe und das abfällige Verhalten ist nichts anderes als die absolute Gegenposition. Der Unterschied ist aber wahrscheinlich die Selbstreflexion bzgl. der Bedürfnisse beim Benutzen von Freie Software. Menschen, die sich bewusst von proprietärer Software abwenden, haben Gründe dafür. Menschen, die es (noch) nicht tun meistens viele bequeme Ausreden. Und wenn diese Fronten aufeinander treffen, dann werden vmtl. schnell Aussagen persönlich genommen und dadurch die Sachebene verlassen.

Klaus
Geschrieben von Klaus am 18. Mai 2024 um 08:41

Das Problem sind wir, die Community. Richard Stallman sagt FOSS, wir verstehen GRATIS. Free as in Beer wie die Amis so schön sagen. Von Gratis kann kein Entwickler leben. Viele Programme entstehen wahrscheinlich als Hobbyprojekt, weil der Entwickler Spass an der Herausforderung hat. Solange die Software nur für den Eigenbedarf da ist, hat er kein Problem. Wenn's wo zwickt, kümmert er sich bei Gelegenheit mal drum oder auch nicht. Sobald er aber die Community auf die Software los lässt, ist das nicht mehr freibleibend. Dann kommen Anfragen und müssen Problemlösungen zeitnah her. Alles immer gratis Das ist nicht tragbar. Schon gar nicht, wenn das Projekt vom Ausmaß her oder aus Rdundanzgründen auf mehrere Schultern verteilt wird, werden muss. Gerade die wenig sichtbaren Teile der Software, die wir täglich benutzen, leiden unter diesem Problem. Großprojekte wie der Linux Kernel, Firefox, SQLite und viele andere werden von Unternehmen finanziert. Freie Software gibt es, da sie mit Mitteln aus unfreier Software und Dienstleistungen finanziert wird. Keine Community weit und breit. Wenn uns das nicht gefällt, sollten wir was dran tun, als Community.