Zum Wochenende: Der Fall Telegram

Mo, 14. Februar 2022, Ralf Hersel

Das ist ein Meinungs-Artikel.

Liest man die Schlagzeilen und Beiträge, die in den letzten Monaten über den Messenger (das Soziale Netzwerk) Telegram geschrieben wurden, erhält man den Eindruck eines Dienstes, der direkt aus der Hölle kommt. Heute möchte ich versuchen, die Causa Telegram zu differenzieren und ohne Aufregung zu betrachten.

Ich spare mir die Hintergrundinformationen zu Telegram, da man diese z.B. in der Wikipedia nachlesen kann. Für eine Beurteilung des Falls, empfehle ich ausdrücklich, diese Informationen vorher zu lesen. Der Dienst sollte nach meiner Meinung aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden: technologisch, soziologisch, rechtlich und politisch.

Technologisch

Aus technischer Sicht stellt sich der Messenger Telegram zwiespältig dar. Der Dienst speichert alle Nachrichten, die in Einzel-Chats, Gruppen oder Kanälen geschrieben werden, auf zentralistisch organisierten Server-Farmen. Diese Inhalte sind nicht verschlüsselt, was gewollt ist und mehrfach von Gründer Pawel Durov erklärt wurde. Der Grund dafür ist, die uneingeschränkte und parallele Erreichbarkeit der Inhalte zu gewährleisten, unabhängig davon, auf wie vielen und welchen Geräten der Telegram-Client läuft. Auf gut Deutsch: Benutzerkomfort.

Man sollte auch wissen, dass die Telegram-Server über viele Länder verteilt sind, um staatlicher Rechtsprechung einzelner Jurisdiktionen ausweichen zu können. Der Grund dafür sind die Blockade-Bemühungen in Russland, Iran, Indonesien und China.

Es ist möglich, Ende-zu-Ende verschlüsselte Nachrichten auszutauschen, die nicht auf den Telegram-Servern gespeichert werden. Dazu muss in einem bidirektionalen Chat (zwei Personen) ein 'geheimer Chat' gestartet werden, der nur dann funktioniert, wenn beide Personen online sind. Hierbei handelt es sich um eine Entscheidung, die bewusst getroffen werden muss; es ist nicht der Standard, funktioniert nicht in Gruppen, sondern nur auf Smartphones, jedoch nicht auf dem PC. Personen, die Telegram als Messenger einsetzen, sind sich hoffentlich der oben genannten Umstände bewusst.

Schaut man auf die Benutzerfreundlichkeit, ist Telegram sicher einer der besten Dienste. Sowohl vom Funktionsumfang, als auch bei der Verfügbarkeit, Portabilität und Verbreitung, gehört Telegram zu den Besten. Die Verschlüsselung (MTProto) hat viel Kritik von Fachleuten erhalten, weil sie eine Eigenerfindung von Telegram ist, was bei Sicherheitsexperten als Ursünde angesehen wird. Dennoch ist bisher nur eine Schwäche aufgedeckt worden, die von den Entwicklern schnell behoben wurde.

Nutzer:innen von Telegram müssen sich der technologischen Stärken und Schwächen bewusst sein, um eine informierte Entscheidung zur Nutzung treffen zu können.

Soziologisch

Die aktuelle Nutzerzahl von Telegram wird auf knapp 600 Millionen geschätzt. Im Vergleich dazu hat WhatsApp (Firma Meta, ex. Facebook) ca. 2000 Millionen Anwender:innen. Die Zahlen sind bei Telegram im Laufe des letzten Jahres stark gestiegen, als Facebook die Verknüpfung von Nutzerdaten zwischen den Diensten WhatsApp, Facebook und Instagram angekündigt hat, um Anwender-spezifisches Werbe-Targeting betreiben zu können.

Telegram wird aufgrund der verteilten Serverstruktur, dem Unwillen Pawel Durovs, sich staatlichen Repressionen zu beugen (Russland etc.), gerne von Kriminellen, Hassredner:innen und Verbreiter:innen von Verschwörungsideen verwendet. Diese Tatsache rückte in den letzten Monaten Telegram in ein schlechtes und einseitiges Licht. Als Analogie möchte ich dieses fiktive und vereinfachte Beispiel nennen:

Bild Zeitung titelt: Mörder benutzten deutsche Autobahn, um sich schnell vom Tatort zu entfernen. Justizministerin fordert ein Verbot deutscher Autobahnen.

Meiner Meinung nach werden die Anwender von Telegram als Sündenböcke unter Generalverdacht gestellt. Auch GNU/Linux.ch betreibt sieben Gruppen (private und öffentliche) bei Telegram. Unsere Moderatoren achten peinlich darauf, dass die definierten Regeln beachtet werden. Wir verbreiten keinen Hass und keine Verschwörungsideen; im Gegenteil, wir setzen uns für eine positiv orientierte Gesellschaft ein.

Für Anwender:innen, die Telegram für illegale Inhalte verwenden möchten, ist dies ein temporärer Aufenthaltsort. Sobald ihnen der rechtliche Wind zu hart ins Gesicht bläst, werden sie in Kürze hunderte von anderen Chats finden, in denen sie ihr Unwesen treiben können. Telegram ist keine Niederlassung, sondern ein Zwischenaufenthalt. Es gibt so viele Chats ohne einen Pawel Durov, den man vielleicht erreichen kann. Und die Follower werden folgen.

Rechtlich

Aufgrund der möglichen Grösse von Gruppen und Kanälen, wird Telegram mittlerweile nicht mehr als Messenger, sondern als Social Network angesehen. Dadurch werden andere Gesetze (in Deutschland) auf den Dienst anwendbar.

Angenommen, das Management von Telegram hat sich den Schutz von Freiheit und freier Rede auf die Fahnen geschrieben, was man aufgrund der Reaktionen in der Vergangenheit (z.B. in Hongkong) vermuten kann. Nehmen wir ausserdem an, dass Telegram die nationalen Forderungen befolgt. Dann hätten wir folgende (fiktive und überspitzte) Situation:

Das anglizistisch geprägte England verlangt die Löschung aller katholischen Inhalte von Telegram. Das katholische geprägte Spanien verlangt die Löschung aller reformierten Inhalte von Telegram. Das atheistisch gesprägte China verlangt die Löschung aller religiösen Inhalte von Telegram.

Somit würde der Dienst, je nach nationaler Rechtsprechung Inhalte entfernen, auch wenn dies global betrachtet widersprüchliche Entscheidungen bedeuten würde. All dies sind Spekulationen, weil sich Telegram nicht zugänglich für solche rechtsstaatlichen Forderungen gezeigt hat.

Politisch

Bis vor Kurzem hat sich Telegram den staatlichen Einflüssen weitestgehend widersetzt und selbst darüber entschieden, was Recht und Unrecht ist. Die Tendenz der Entscheidungen wies in eine liberale, zum Teil libertäre Richtung und wandte sich gegen repressive und autokratische Strömungen. Aus der Sicht der westlichen Welt, mag man das positiver bewerten, als wenn das Gegenteil der Fall gewesen wäre.

Soll ein Social Network im Internet entscheiden dürfen, was gut oder schlecht ist? Die Verbreitung und Marktmacht legitimiert nicht dazu, ermöglicht es jedoch. Die naheliegende Antwort lautet: Staaten und ihre Rechtssysteme entscheiden darüber, welche Inhalte, Gruppen und Kanäle in Telegram (und anderen) erlaubt sind. Damit würde der teilweise rechtsfreie Raum des Internets an staatliche Gesetze angeglichen.

Ich halte die Überzeugung von Pawel Durov für ehrenwert, wenn er sich gegen autokratische und menschenverachtende Regierungen einsetzt. Nur ist dies nicht seine Aufgabe, Rolle und Kompetenz. Die Macht über grosse Bevölkerungsschichten (600 Mio. User) ist völkerrechtlich nicht legitimiert, nur weil die User das toll finden. Wir sind verloren, wenn Messenger-Apps und Soziale Netzwerk die Rolle von politischer Bestimmung übernehmen. Leider ist dies bei anderen Tech-Teilnehmern bereits geschehen, wie wir gleich sehen werden.

Die Deutsche Regierung hat sich in den vergangenen Wochen intensiv darum bemüht, einen Kontakt zur Telegram-Leitung aufzubauen, ist aber gescheitert. Es wurde keine Adresse gefunden, an die man einen Brief an Pawel Durov schicken konnte, bzw. worauf Telegram geantwortet hätte. Gesuche um Rechtshilfe an die Vereinigten Arabischen Emirate (wo sich der Hauptsitz von Telegram vermutlich befindet), waren aufgrund der schwierigen Beziehungen zu den VAE, nicht hilfreich. Erst als sich die deutsche Innenministerin Nancy Faeser an die Firma Google wandte, wurde ein Kontakt zu Telegram möglich, der das Sperren von 64 Kanälen zur Folge hatte, wie die Süddeutsche Zeitung berichtet.

Darin zeigt sich die ganze Tragik der Geschichte. Eine Innenministerin muss einen der grossen Tech-Player um die Kontaktvermittlung zu einem Chat-Anbieter bitten, weil sie selbst nicht (mehr) dazu imstande ist. Für mein Empfinden ist dies die wichtigste Erkenntnis aus der Causa Telegram. Es geht nicht darum, wie Telegram technisch, sozial oder rechtlich einzuordnen ist. Es geht darum, dass Firmen wie Google, Apple, Microsoft, Amazon und Facebook (Meta mit Facebook, Instagram und WhatsApp) die Hoheit über globale Entscheidungen übernommen haben. Die Auswirkungen und Bestimmungsgewalt der Big-Five haben den Volkswillen und die Regulationsmöglichkeiten von Einzelstaaten überschritten.

Fazit

  • Telegram ist nicht per se böse, auch wenn die Presse einem das Glauben machen will.
  • Telegram hat technische Schwächen, die beabsichtigt sind, um die Benutzererfahrung zu stärken.
  • Fast alle Inhalte auf Telegram sind rechtlich in Ordnung; das Kriminelle bildet die Ausnahme.
  • Die Regulierung von Telegram ist wünschenswert, führt aber nicht zum Ziel, weil Kriminelle und Hasser weiterziehen werden und damit noch schwerer zu unterbinden sind.
  • Telegram kann nationale Rechtsprechungen umsetzen, begibt sich damit jedoch in einen Widerspruch zur eigenen Überzeugung.
  • Social Networks dürfen nicht nationale Gesetze und Verfassungen unterwandern.
  • Firmen wie Google, Microsoft, Facebook, Amazon und Apple dürfen kein Ersatz für die Entscheidungen von Völkern in ihren Staaten sein; egal welcher politischer und wirtschaftlicher Form diese angehören.

Ich wünsche allen Lesern und Leserinnen ein angenehmes Wochenende.

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Telegram, Inhalte, Facebook, Pawel, Gruppen, Messenger, Inhalt, Durov