Unsere Artikel zum Wochenende laden dazu ein, über Themen zu schreiben, die nicht unmittelbar mit Freier Software und Freier Gesellschaft zu tun haben. Sie können zum Nachdenken anregen. So auch dieser. Der Auslöser für diesen Artikel war ein Beitrag bei Golem, in dem der Software-Chef, Wassym Bensaid, des Autobauers Rivian sagt, dass die Bedienung von Fahrzeugen über physische Schalter eine Anomalie sei:
Sie sind ein Bug, kein Feature.
Als ich das las, dachte ich zuerst, er würde für die Überlegenheit von Touch-Schalter gegenüber haptischen Schaltern plädieren, doch weit gefehlt. Er möchte beides abschaffen und Fahrzeuge mit Sprachbefehlen steuern. Die Kommentare dazu könnt ihr euch vorstellen:
Rechts, NEIN, Links
Bremsen, ich sagte BREMSEN!
Bei der Bedienung von Geräten gibt es direkte und indirekte Konzepte. Man kann sich das als unterschiedliche Abstraktionsschichten vorstellen. Das möchte ich am Beispiel eines Fahrrads verdeutlichen, und zwar beim Bremsen.
Level 1: Zum Bremsen setze ich die Füsse auf den Boden, um die Geschwindigkeit zu verringern, oder ich greife mit der Hand auf den Vorderreifen. Beide Methoden sind ineffizient und eher schmerzhaft.
Level 2: Ich konstruiere einen Hebelmechanismus, der über eine physische Verbindung (Bowdenzug oder Hydraulik) mit dem Bremsmechanismus verbunden ist. Das ist indirekt, aber physisch. So funktionieren heute fast alle Fahrradbremsen.
Level 3: Ein Elektromotor wird vom Fahrer über den Bremshebel angesteuert, um die Bremskraft auszulösen. Hierbei sind die möglichen Fehler bereits viel grösser als bei Level 1 und 2. z. B.: Stromausfall oder Fehler in der Steuerung.
Level 4: Auf dem Smartphone, welches am Lenker befestigt ist, reguliere ich über einen Touch-Schieberegler die Bremskraft. Das Handy schickt den Bremsbefehl in die Cloud. Der Cloudanbieter schickt den Bremsbefehl an den Aktuator, der an der Bremsanlage des Fahrrads montiert ist.
Level 5: Ich spreche "Bremsen" in mein In-Ear-Mikrofon. Dieses leitet den Befehl an mein Smartphone weiter. Das Handy schickt die Sprachmeldung zu einer Cloud-KI, die versucht, den Befehl zu verstehen. Das Ergebnis der Sprachinterpretation wird an die Cloud aus Level 4 weitergeleitet, usw.
Ab welchem Level fühlt ihr euch unwohl?
Bei Autos beschweren sich einige Fahrer:innen über das Verschwinden von physischen Schaltern zugunsten der Touch-Bedienung auf den Bildschirmen. Im siebten Untermenü findet man endlich die gesuchte Funktion. Wichtige Funktionen, wie Heizung, Lüftung, Fahrassistenten, Lautstärke, usw. werden über nicht haptische Schieberegler eingestellt. Diese lenken die Aufmerksamkeit massiv vom Strassenverkehr ab. Die blinde Bedienung ist unmöglich. Ich frage mich, wie solche Regelsysteme überhaupt eine Betriebserlaubnis erhalten konnten.
Ohne UX studiert zu haben, sagt einem der "gesunde Menschenverstand", dass ein Drehregler, den man zwischen zwei Fingern nehmen kann, besser ist als ein physischer Schieberegler, bei dem man die absolute Position schlechter einschätzen kann (die Tontechniker unter euch werden mir recht geben). Für binäre Schaltvorgänge sind Kippschalter besser geeignet als Druckschalter, weil die Aktion auf der x-/y-Achse (nach rechts oder oben gekippt) viel intuitiver ist als die Aktion auf der z-Achse (hineingedrückt).
Wenn es bei den physischen Schaltern schon solche Unterschiede gibt, wie sieht es dann erst bei den digitalen Schaltern aus?
Bei den Handys gab es vor 15 Jahren eine breite Auswahl an Form-Faktoren: klein, gross, mit oder ohne Tastatur, klappbar, längs oder quer. Doch mit dem Markteintritt des ersten iPhones im Jahr 2007 hat sich über die Zeit die heute allgegenwärtige Form bei den Smartphones durchgesetzt: hochkant, vollflächiges Display, wenige physische Schalter. Ob das der Weisheit letzter Schluss ist, kann man anzweifeln. Erinnert ihr euch noch an das Nokia E7 oder an die späten Blackberry-Modelle?
Nokia E7 und Blackberry Priv (Bildquelle: https://phonesdata.com)
Diese Modelle hatten ausschiebbare physische Tastaturen. Die Blackberry-Modelle, insbesondere die frühen, waren bekannt für ihre ergonomischen Tastaturen. Heute müssen wir uns mit virtuellen Bildschirmtastaturen zufriedengeben, die häufig im Weg sind und sich schlecht bedienen lassen.
Ein anderes Beispiel sind on/off-Schalter:
Das Beispiel stammt aus den Android-Systemeinstellungen. Ob ein Schalter an oder aus ist, kann man nur aus der Farbe schliessen. Die Position (rechts/links) sagt nichts aus und eine Beschriftung (an/aus) gibt es nicht.
Wie haltet ihr das mit der Haptik? Wünscht ihr euch mehr physische Elemente für die Steuerung in Autos und anderen Gebrauchsgegenständen? Und was ist mit den Einstell-Elementen bei Computer-Desktops und Smartphones? Seht ihr dort Verbesserungspotenzial oder seid ihr zufrieden?
Quellen: stehen im Text
An Smartphones und PCs finde ich es ja in Ordnung, weil die dafür gemacht sind. Aber bei Autos oder auch in der Küche, steht das Fahren oder eben Kochen & Backen im Vordergrund und dann ist es erstens einfacher zu verstehen (ohne die Bedienungsanleitung zu lesen) und sicherer (s. Auto). Wofür haben wir eigentlich Hände mit Fingern?
Ich glaube das Thema was hier angesprochen wird hat nur zu einem gewissen Teil etwas mit Haptik zu tun. IMHO geht es um möglichst sinnvoll angeordnete Funktionen, die in halbwegs gut benutzbaren, einfachen und widerspruchsfreien Schnittstellen angeboten werden. Natürlich ohne Dinge zu verkomplizieren, d.h. grundlegende wichtige Einstellungen in überflüssigen bzw. unlogischen Menütiefen zu verstecken oder den Benutzer in zu vielen Auswahlmöglichkeiten ertrinken zu lassen (Featuritis).
Autos sind ein richtig schönes Beispiel für die Entwicklung einer solchen Schnittstelle (User Interfaces). Autos in den 70er Jahren hatten wenige, fast nur absolut notwendige, Funktionen für den Autofahrer parat, Blinker, Licht, Heizung ... insgesamt waren es vielleicht 10 oder sogar oft weniger Dinge, die manuell und haptisch eingestellt werden konnten. Autos in den 90er Jahren waren dann vollgestopft mit Schaltern, Kipp- und Drehreglern, farbigen Blink-Elementen (Featuritis) und selbst Dinge wie Fenster öffnen oder Aussenspiegel einstellen erforderte plötzlich 4 - 5 Extra-Knöpfe - das Armaturenbrett sah dadurch damals häufig ein bisschen wie ein Flugzeug-Cockpit aus (7er BMW, Mercedes S-Klasse). Glücklicherweise ist diese Art von Featuritis schon seit mind. 15 Jahren rückläufig, doch das Problem hat sich danach in die Touchscreens mit ihren On-Board-PCs, komplexen Menü- und Diagnosesystemen verlagert und dadurch ist ein neuer zusätzlicher Nachteil entstanden: Man sieht nicht mehr alle Einstellungen auf einen Blick!
Es fühlt sich komisch an das die Leute heute einem programmierten farbigen Balken auf einem Display mehr "vertrauen" als einem ganz normalen physischen bzw. haptischen Schalter.
"Analoge" Schalter sind nicht zwingend schlecht.
Meinen Lieblingswecker habe ich verliehen, und nie mehr wiedergesehen: Eine kleine, ultra-stabile Box zum Aufklppen, je ein Rädchen für Uhr- und Weckzeit, und ein Schalter für 'scharf'/'nicht scharf'. Es gibt hingegen "digitale" Wecker, die JEDER Beschreibung spotten!
In GUI's schmeiße ich gerne alles raus, was stört, etwa im Libreoffice (wo man über die "Seitenleise" trotzdem an die meisten Sachen rankommt), oder über CSS im Firefox. In letzterem habe ich neuerdings eine ROTE Schaltfläche, wenn man mit der Maus über "Tab Schließen" geht, und eine GRÜNE Schaltfläche, wenn man mit dem Zeiger über "Neuen Tab" fährt (Home und Settings habe ich ebenfalls leicht eingefärbt).
Gut finde ich z.B. LXDE, trotz gelegentlicher Fummeleien an den GTK Settings. Wo ich noch fummeln müsste: Im Firefox, wenn man etwas abspeichern will, unter einem sinnvollen Namen an sinnvollem Ablageort, poppen bei der Namensvergabe –manchmal, aber nicht immer– meine Dateimanager-Favoriten auf, was einfach stört. Da scheint es jemand gut gemeint zu haben, nur hilfreich ist es leider nicht.
Zum Thema Fahrrad und Haptik, was ebenfalls unter den Nägeln brennt:
Bremsen und Schaltung finde ich mit Seilzug gut, während es Schaltungen mit E-Motoren längst gibt, und die funktionieren sehr gut! Für die Schaltung würden mir ungerasterte Unterrohrhebel reichen, nur stattdessen gerne –analoge, insbesondere stabile– Drehhebel am Rennlenker, und Scheibenbremsen auf Steckachsen!
"Zunächst geht es um das Glatte, das geschmeidige. Das Glatte vermittelt nur ein angenehmes Gefühl, mit dem sich kein Sinn, kein Tiefsinn verbinden ließe. Es erschöpft sich im Wow." aus "Die Errettung des Schönen" Byung-Chul Han
Im Auto macht die Sprachsteuerung der Komfortfunktionen schon Sinn, sofern sie denn ausgereift ist. In Verbindung mit einem Head-Up-Display bleibt die Aufmerksamkeit auf die Straße gerichtet und verbessert die Sicherheit. Touch-Bedienung empfinde ich als umständlich und gefährlich, da die Aufmerksamkeit teils massiv von der Straße abgelenkt wird. Gehört für mich während der Fahrt deaktiviert. Dreh- und Kippschalter sind intuitiver bedienbar und aus meiner Sicht weniger problematisch als Touch-Bedienung, insbesondere wenn sie im Lenkrad integriert sind. Bei der sicherheitskritischen Funktion Bremsen sehe ich momentan keine Alternative zum Bremspedal, zumindestens solange sich das autonome Fahren noch nicht durchgesetzt hat. Der Auto-Pilot wird das Fahren natürlich revolutionieren, dann spricht auch nichts mehr gegen die Verwendung eines Bildschirms.
Es kann auch ein lokal laufendes Sprachmodell für verschiedene Funktionen sein.
Oh, vielen Dank. Haben Sie noch nie mit einem "Callcenter" irgendeines Anbieters telefoniert, der Sie mittels Spracheingabe navigiert? Der blanke Horror! Egal ob Cloud oder stationär, die Fehleranfälligkeit ist derart gross, weil jeder etwas anders "nuschelt" und die Sprachcomputer nur auf absolut klare Aussprache richtig reagieren. Ich drücke lieber einen Knopf oder bediene einen anderen Schalter als mich akustisch und sprachlich einem Sprachcomputer anzupassen.
Kommt immer drauf an. Beim Smartphone ist es mir fast egal, obwohl ich es auch da gut finde, wenn's Knöpfe z.B. zum Fotografieren gibt. Beim Auto vermiss ich aktuell (Cupra Born) einige Schalter, Drehregler und dergleichen. Einfach mal kurz für freie Sicht den Regler ganz hochschieben und Lüftung auf die Scheibe... geht nicht ohne rumgetatsche. Sprachsteuerung ginge vielleicht, aber ob ich der klarmachen kann, wie es jetzt sein soll, wäre auch noch zu probieren. Das Lenkrad hat einige Knöpfe oder eher Tastflächen, die sind aber auch nicht immer leicht zu bedienen... weil die halt so glatt sind und kaum Hub haben (wo ich doch im Motor schon keinen Hubraum habe!) und die haptische Rückmeldung daher eher bescheiden ausfällt. Zum Glück habe ich noch die normalen Multifunktionshebel (Blinker, Fernlicht, Scheibenwischer vorn und hinten) - die Scheibenwischerautomatik gefällt mir nämlich z.B. gar nicht, weil die manchmal einfach nicht zuverlässig anspringt (Sprühregen).
Am computer habe ich eigentlich auch gerne Knöpfe - ich vermisse z.B. für die Lautstärkeregelung dedizierte Knöpfe oder auch für nächstes Lied und so. Das kann ich aber, im Gegensatz zum Auto, sehr einfach nachrüsten. Nur ist die Tastatur sonst halt noch gut und ich will die jetzt nicht entsorgen, weil mir Multimediatasten fehlen.
Erst einmal herzlichen Dank Ralf, für diesen gelungenen Artikel, der den Nagel auf den Kopf trifft. Das Thema ist so aktuell wie es nur sein kann. Ich habe beim Thema Auto selber erst vor kurzem vor der Frage und Entscheidung gestanden, womit ich mich anfreunden kann und wo meine Toleranzgrenze liegt. Was würde ich bei dem Thema Touch ertragen? Mit wie wenig haptischen Schaltern kann ich klar kommen? Wie gut funktioniert das "Smartphone OS" im Auto für mich? Jede Menge Fragen und ich habe mir etliche Fahrzeuge angeschaut. Leider springen alle OEM aktuell auf den Zug von Touch, Display und Reduzierung jeglicher Schalter im Fahrzeug, auf. Eine schreckliche Entwicklung wie ich finde. Die OEM`s lösen das mal etwas besser bis sehr schlecht. Alleine darüber könnte ein eigenes Kapitel geschrieben werden. Bei Smartphones, PCs, etc. finde ich das alles OK und macht durchaus Sinn. Das Beispiel Fahrrad finde ich auch sehr gelungen. Kann ich mir gar nicht vorstellen! Alles was Sicherheit betrifft (Bremse, ...) muss eine direkte Verbindung haben. Da kann und darf nichts über irgend eine Cloud laufen. Absolut bedenklich und mMn höchst gefährlich! Die zunehmende Elektrifizierung im Auto, ist ohne hin bedenklich.Toyota veranstaltet mit Hackern, die im Fahrbetrieb Autos hacken um deren Sicherheit zu testen, regelmäßig Testfahrten. Was da alles möglich ist (Vollbremsungen bei Tempo 200, ...), macht mich so was von nachdenklich ... aber das ist ein anderes Thema. Also fehlende Haptik durch den Ersatz von Touch halte ich für bedenklich!
Ich zahle für Knöpfe/Tasten/Schieber/Drehregler/… gerne Aufpreis, und will auch bei Software meine Bedienelemente haben – aber eben so, wie mir das passt; darum verwende ich KDE/LibreOffice/Firefox, passe bei Bedarf dann an (Standardeinstellungen können es eben nie allen Recht machen).
Bei Autos wurde bis zum Aufkommen der Touchscreens Wert darauf gelegt, dass sie sich bedienen lassen, ohne die Augen von der Strasse zu nehmen; jetzt werden die Fahrer bestraft, wenn sie nicht auf den Verkehr geachtet haben. Fahrzeuge unterhalb von SAE-Level 4 lassen sich nicht per Sprachbefehle steuern; das wäre neurobiologisch bedingt nicht nur sehr ermüdend, sondern vorallem viel zu reaktionsträge: Autofahren findet unter der Bewusstseinsschwelle statt, ähnlich wie Jonglieren oder Musizieren, und daher bremst das Fahrzeug bereits, bevor die Gefahr überhaupt vom frontalen Kortex registriert wurde.
Die Vorteile von händischem Schreiben gegenüber Tippen lassen sich analog übertragen auf die Vorteile von physischen Schaltern gegenüber Touchscreens: Wir begreifen die Welt mit all unseren Sinnen, doch das Auge ist nur einer davon. Gedächtnis hat eine stark räumliche Kodierung: Wo warst du, als du von 9/11 erfahren hast? Ist eigentlich egal, aber gespeichert wurde es trotzdem. Evolutionär ergibt das Sinn. Zudem sind Hörverstehen und Sprechen kognitiv sehr aufwändig, und nicht ohne Grund unter den letzten Dingen, die wir lernen, unter den ersten, die wir verlernen.
Wer meint, Dinge würden "einfacher" oder "intuitiver", wenn Schalter fehlen, sollte sich mit Neuropsychologen und Sonderpädagogen unterhalten – oder wenigstens mit den Leuten hinter Projekten wie Dynamicland, statt blind jedem Trend hinterherzulaufen; Rauchen war vorgeblich auch mal gut für die Gesundheit.