Viele Android-Geräte, die schon nach relativ kurzer Zeit keine Updates seitens des Herstellers mehr erhalten, wandern zum Elektroschrott, obwohl die Hardware für viele Einsatzzwecke noch sehr gut geeignet wäre. Da Android im Kern quelloffen ist, entwickeln verschiedene Entwickler*innen und Communities auf Android basierende freie/ alternative Betriebssysteme, sogenannte Custom ROMs: Diese können zum einen dazu beitragen, Androidgeräten zu einer wesentlich längeren Nutzungsdauer zu verhelfen.
Ein zweiter Vorzug von Custom ROMs ist die Option, mehr Kontrolle über sein eigenes Gerät zu erlangen, und die Chance, sein Gerät zu "entgoogeln" sowie sich der teilweise massenhaft vorinstallierten Bloatware von Herstellern und Sponsoren zu entledigen: "Übernimm die Kontrolle und mache dir dein Telefon zu eigen".
Ganz so einfach, wie am Desktop-PC/Laptop ein neues Betriebssystem zu installieren, gestaltet es sich allerdings bei Android-Geräten nicht. Schon das Entsperren des Bootloaders kann je nach Gerät eine grosse oder sogar unüberwindbare Hürde darstellen. Zudem es ist auch nicht für jedes Gerätemodell möglich, eine Alternative zu finden. Denn jedes Mobilgerät braucht wegen zahlreicher nicht im Quellcode verfügbarer Treiber seine eigene Android-"Distribution", sein eigenes "Build" für das jeweilige Gerätemodell.
An dieser Stelle soll es zunächst einen kleinen Überblick geben, in dem ausgewählte Custom ROMs kurz vorgestellt werden. In weiteren Artikeln werde ich dann einige von diesen noch detaillierter vorstellen und Hinweise zur Installation und Einrichtung geben.
Es gibt eine grosse Vielzahl verschiedener Custom ROMs, die jedoch zum Teil recht kurzlebig sind oder ihren Fokus auf optischen Features, Designspielereien oder zusätzlichen Komfort-Funktionen haben (bspw. HavocOS oder Resurrection Remix). Um diese soll es hier nicht gehen, sondern (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) um solche, die darüber hinaus stärker auf FOSS, Datenschutz und/oder auf Sicherheit fokussiert sind.
Ein Klassiker unter den Custom ROMs ist sicherlich LineageOS, der Nachfolger des 2016 eingestellten CyanogenMod-Projekts. Der Fork des Android Open Source Projects (AOSP) wird von zahlreichen freiwilligen Entwickler*innen betrieben. Es werden zahlreiche Geräte verschiedener Hersteller offiziell von LineageOS unterstützt und mit regelmässigen Updates versorgt. Auch auf dem Raspberry Pi lässt es sich installieren. Für viele weitere Mobilgeräte gibt es inoffizielle Builds, nach denen man jedoch im einzelnen u.a. auf https://forum.xda-developers.com/ recherchieren muss.
In der Grundfiguration ist LineageOS weitgehend, jedoch nicht gänzlich googlefrei, sondern über "gewisse Schnittstellen bzw. Mechanismen (bspw. Captive Portal Check) weiterhin mit Google verbandelt".
Das reine System enthält dann nach der Installation einige vorinstallierte Apps, die die Grundbedürfnisse abdecken, wie Dialer, Kontakte, Kalender und Browser. Als nächster Schritt ist die Installation des FOSS-App-Stores F-Droid zu empfehlen. Wer auf proprietäre Apps nicht gänzlich verzichten will oder kann, sollte dann über F-Droid den Client für den Aurora-Store nachinstallieren, um damit Apps aus dem Play-Store ohne Google-Account nutzen zu können.
Ohne Google-Dienste kann es jedoch zu Problemen bei der Ausführung einiger Apps kommen, da bei der App-Entwicklung leider nur selten auf Google-Dienste verzichtet wird. Das Projekt MicroG zielt darauf ab, dieses Problem zu lösen bzw. abmildern mit einem Set aus quelloffenen Diensten, die die Funktionen und APIs der Google Play Dienste nachempfinden, ohne dass Daten an Google fliessen sollen.
MicroG ist in LineageOS for MicroG und in /e/OS integriert, die beide auf LineageOS basieren.
/e/OS bietet auf Nextcloud-Basis ein eigenes System von Online-Diensten an, unterstützt derzeit offiziell über 200 Geräte, inoffiziell noch einige mehr, und verfolgt das Ziel, ein noch gründlicher als LineageOS entgoogeltes System zu entwickeln. Es gibt jedoch auch einige Kritikpunkte (u.a. Appstore und Launcher). Dies und einige weitere Besonderheiten von /e/OS werde ich in einem gesonderten Artikel noch ausführlicher darstellen.
Relativ neu und ambitioniert ist das Projekt DivestOS, das mit der Parole antritt: "Take back (some) control of your device". DivestOS basiert ebenfalls auf LineageOS und bietet einige zusätzliche "security and privacy features". Unter anderem ist F-Droid als Appstore bereits vorinstalliert und Silence, zur verschlüsselten SMS-Kommunikation, ist als Standard-SMS-App integriert.
Auch DivestOS unterstützt relativ viele Geräte, sowohl relativ aktuelle als auch einige ältere Modelle. Ich hoffe, es in absehbarer Zeit testen und dann auch noch ausführlicher dazu berichten zu können.
Daneben gibt es Custom ROMs, die auf bestimmte Geräte bzw. Hersteller fokussiert sind:
Replicant "is a free software mobile operating system putting the emphasis on freedom and privacy/security" und besteht zu 100% aus freier Software. Da es keinerlei nicht-freie Treiber verwendet, können jedoch nur wenige Geräte unterstützt werden. Dies sind insbesondere schon sehr alte Geräte, die mit Replicant einen zweiten Frühling erleben können.
Ironischerweise haben die glücklichen Besitzer*innen von Google-Smartphones die besten Aussichten, ihr Gerät zu entgooglen. Sowohl alle der o.g. ROMs bieten Builds für die Google-Pixel-Reihe an, als auch GrapheneOS und CalyxOS:
CalyxOS „gelingt der ungewöhnliche Spagat, sowohl Nerds als auch weniger technikaffine Menschen anzusprechen, denen Datenschutz wichtig ist“ (Linux-Magazin), während GrapheneOS noch darüber hinaus mit Sandboxing, Verschlüsselung, gehärtetem Browser, u.v.m. auf maximale Sicherheit und Privatsphäre ausgelegt ist: "Hart, härter, Graphene". Beide Systeme sollen einen einfachen und transparenten Installationsprozess und Setupassistenten bieten und eine komfortable Benutzererfahrung, die sich an gängigen Android-Geräten orientiert. Mangels passendem Gerät konnte ich damit aber noch keine eigenen Erfahrungen machen.
„Use your phone as your PC“: Einen sehr interessanten Ansatz verfolgte auch MaruOS mit einer Kombination aus Android/AOSP und Debian. Mit Android als Host und Linux als Gast/ Container ist es möglich, das gleiche Gerät sowohl als Smartphone als auch als Desktop-PC zu nutzen. Der XFCE-Desktop startet automatisch, sobald Monitor und Bluetooth-Tastatur angeschlossen werden. Das Smartphone selbst hat während dessen eine voll funktionsfähige Android-Oberfläche und kann auch noch Telefonate ausführen. Leider wird dieses Projekt anscheinend momentan nicht mehr aktiv weiterentwickelt, das letzte Build stammt von 2019.
Linux auf Android-Geräten
Sehr interessante Entwicklungen gibt es derzeit bei Linux-Phones: So sind bspw. für das Pinephone zahlreiche Linux-Distributionen in der Testphase wie Mobian, Fedora, Arch ARM, openSUSE u.v.m.
Doch auch konventionelle Android-Geräte können mit Linux betrieben werden. Einige Geräte werden von Mobile NixOS und von Ubuntu Touch unterstützt, relativ viele sogar von PostmarketOS.
Mobile NixOS adressiert m.W. wie NixOS einen sehr speziellen User-Kreis. Ubuntu Touch zielt dagegen auf „Everyone“ und bietet neben wenigen offiziell unterstützten Geräten immerhin für derzeit 78 Geräte (davon 7 Tablets) Community-Builds mit unterschiedlichem Entwicklungsstand an.
PostmarketOS beschreibt sich selbst als "real Linux distribution for phones and other mobile devices" und bootet sogar auf über 300 Geräten, von denen sich der Grossteil allerdings noch im experimentellen Stadium befindet.
Ubuntu Touch und PostmarketOS werde ich in folgenden Artikeln noch etwas genauer vorstellen und von meinen persönlichen Erfahrungen damit berichten.
Fazit & Appell
Die Chancen, ein passendes Custom ROM für das eigene Gerät zu finden, sind also gar nicht so schlecht. Das gilt in erster Linie für Smartphones; im Bereich Tablets ist das Angebot dann doch recht dünn, das heisst, die Anzahl unterstützter Tabletmodelle ist insgesamt sehr gering.
Doch vor allem, wenn Ihr vielleicht bereits ausrangierte Geräte übrig habt, probiert es einfach mal aus! Bei einigen von Euch liegt sicher dieses Jahr ein neues Smartphone unter dem Weihnachtsbaum. Bitte entsorgt das Vorgängermodell nicht vorschnell, sondern schaut auch noch nach sinnvollen Alternativen.
In diesem Sinne: "Happy flashing!"
Quellen:
c't 7/2020, S. 26-29: Entfesselungskünstler. Smartphones mit Custom-ROMs Google-frei betreiben.
c't 7/2020 S. 16-17: Android ohne Google. Smartphone datensparsam machen: mit Custom-ROM und Bordmitteln.
Linux-User 11/2021, S. 84ff.: Frischzellenkur. Stock-Android durch LineageOS ersetzen.
https://mobilsicher.de/ratgeber/lineage-bis-linux-freies-betriebssystem-fuer-smartphones
Linux-Magazin 9/2021, S. 30-37: Freihandelszone. F-Droid: Open Source Apps für Android.
https://auroraoss.com/de/faq/#aurora-store
Linux-Magazin 9/2021, S. 22-28: Datensicherung. Android-Alternative /e/OS schützt die Privatsphäre.
Linux-Magazin 9/2021, S. 18-21: Schadstoffarm. CalyxOS: Google-freies Android.
Linux-Magazin 9/2021, S. 38-44: Nummer sicher. Eine besonders sichere Alternative für Googles Pixel-Phone (GrapheneOS).
https://itsfoss.com/maru-os-linux/
https://www.pcwelt.de/a/maru-os-android-wird-zum-pc-desktop,3447792
Das ist ein toller Artikel, vielen Dank. Vielleicht von Interesse, wir hatten in unserer 40. Podcastfolge https://www.trommelspeicher.de/podcast/iso-image-auf-lochkarten einen LineageOS-Maintainer zu Besuch und hatten uns über das gleiche Thema unterhalten.
Vielen Dank für das Lob! Und vielen Dank für den Hinweis auf den interessanten Podcast (wobei ich auf die Schnelle nur kurz reinhören konnte... ist auf Wiedervorlage gelegt). Und die weiteren Themen auf https://www.trommelspeicher.de/ sind auch vielversprechend, die Seite kannte ich noch nicht und werde mit etwas mehr Zeit auch noch mal weiter drin lesen. (scheint nicht nur für MacOS-User interessant, sondern geht weit darüber hinaus)
Gibt es irgendwo eine Liste, welche aktuell kaufbaren Neugeräte von welchem Custom ROM unterstützt werden? Bei vielen Smartphones ist der Bootloader gesperrt und verhindert Aufspielen fremder Betriebssysteme.
Tatsächlich fährst du heute wohl mit einem Pixel Gerät am besten, beispielsweise dem 4a (5G). So paradox dies klingt.
https://grapheneos.org/faq#device-support
Eine Liste gibt es m.W. nicht, sondern man muss die einzelnen Listen der ROMs durchschauen. Mit Pixel-Geräten ab Pixel3 hat man am meisten Auswahl und das dürfte auch b.a.W. so bleiben. Und das Entsperren ist bei denen wohl auch einfach.
Oder Fairphone 2/3/4: dafür gibt u.a. LineageOS, /e/OS, Ubuntu Touch. /e/OS hat auch einen Shop mit einigen neuen und refurbished Geräten.
Auch von mir ein Lob für den Artikel. Sehr aufschlussreich. Verfolge diese Thematik schon seit einigen Jahren. Bin aber in Sachen Programmieren und oder arbeiten mit dem Terminal kein Profi. Habe mich also nie an das Flashing ran getraut. Hatte auch nie ein passendes Gerät dazu. Eben immer die Angst davor, das Handy nur noch als Briefbeschwerer nehmen zu können. Zu Weihnachten habe ich meiner Frau und mir jeweils ein Volla Phone bestellt. Ist mit einem angepassten Graphene OS ausgestattet und funktioniert tadellos mit der Sicherheit Googlefrei zu sein. Schöne Weihnachten
Danke! Vom Volla Phone habe ich auch schon Positives gehört. Für Neuanschaffungen sicher eine gute Option. Gerne mal weiter berichten, wie es damit läuft. Habt Ihr denn jetzt alte Geräte übrig? Dann wäre damit das Flashen ja weniger risikoreich. Über die Herausforderungen bei der Installation werde ich auch noch mal schreiben. Das ist je nach Gerät sehr unterschiedlich kompliziert. Bei vielen Geräten beschränkt es sich auf einige wenige Befehle im Terminal, die man aus der entsprechenden Anleitung kopieren kann, oder es gibt (selten) sogar einen "Installationsassistenten".
Wie gross wirklich das Risiko ist, es zu "bricken", so dass es nur noch zum Briefbeschwerer taugt, kann man schwer einschätzen. Bei einigen Geräten hat es bei mir auch nicht im ersten Anlauf funktioniert, aber bislang hat es schlussendlich dann doch immer geklappt.
Zum Volla Phone gab es hier auch schon mal einen ausführlichen Artikel: https://gnulinux.ch/volla-phone-android-privacy-phone-ohne-google Dürfte weitgehend noch aktuell sein.
Danke Caos für den tollen Artikel mit vielen interessanten hinweisen. Info von mir: Viele Sony Smartphones lassen sich mit einem Code den man bei Sony-Developers beziehen kann entsperren, es gibt dort auch ein Sony eigenes AOSP Programm:
https://developer.sony.com/develop/open-devices/
Ja, vielen Dank! In einem der nächsten Artikel werde ich auch noch auf einige Besonderheiten bei der Installation und der Vorbereitung dafür eingehen und dabei auch auf einige herstellerspezifische Besonderheiten. Bei Sony und z.B. auch bei Motorola bekommt man den Unlock-Code quasi direkt, bei Xioami muss man ein Konto anlegen und erhält ihn dann viel später, usw. Es gibt leider auch Geräte, für die es aktuelle ROMs gibt, die aber aktuell nicht mehr zu entsperren sind (z.B. Honor 5x). Bei Samsung ist es bei älteren Geräten sehr einfach, aber anders. Und es gibt auch zum Teil ziemlich unschöne Entwicklungen, wie es erschwert wird, z.B. "Samsung kills the cameras on the Galaxy Z Fold 3 if you unlock the bootloader" https://www.xda-developers.com/samsung-galaxy-z-fold-3-unlock-bootloader-broken-camera/
Danke für den guten Überblick, freue mich schon auf die Fortsetzungen,Übrigens hatte HEISE kürzlich auch etwas zum Thema https://www.heise.de/news/Open-Source-Adventskalender-Android-ohne-Google-6307960.html, dort wurde zusätzlich Iodé OS https://iode.tech/en/ erwähnt.
Ja, danke! ...Man könnte denken, Heise hat bei mir abgeschrieben ;-) war am 24. im Adventskalender...aber im Ernst: Da geht zum Teil um die gleichen ROMs, aber mehr noch um die Hintergründe der Projekte und personelle Angelegenheiten und auch noch ausführlicher zu CalyxOS und GrapheneOS (für diejenigen, die ein Pixel-Gerät haben, sicher erste Wahl; sogar der Entwickler von DivestOS empfiehlt GrapheneOS, sofern man ein passendes Gerät hat).
Und iode hatte ich auch schon mal gesehen, aber nicht erwähnt, da es sich m.W. nicht selber flashen lässt. Die bieten aber wie der /e/OS-Murena-Shop auch Geräte mit ihrem OS zum Kauf an (mittelalte bis relativ neue refurbished Geräte). Bei Neuanschaffung also auf jeden Fall interessant, danke für die Ergänzung.
Das ganze Thema (Kaufempfehlungen für Geräte mit alternativen/ freien OS, neu + refurbished) wäre sicher auch noch mal einen Artikel wert, um das noch mal systematischer im Überblick zu haben.
Ich habe mich bislang v.a. mit der Upcycling-Perspektive beschäftigt und auch selbst noch nie ein neues Phone oder Tablet gekauft.
Hi caos, ist dein Name Hinweis darauf, dass Du selbst an einem gleichnamigen Operätionsüstem tüvtellst? rota
Danke für den echt lesenwerten Artikel. Ich selbst bin zufriedener SailfishOS Nutzer auf einem Sony. Bisher habe ich noch keine Studie gefunden, die untersucht, wieviele Daten bei diesem OS abfließen. Jolla gibt jedoch jahrelang Updates und bis auf das UI ist der Code auch frei.
Super interessanter Artikel und gut geschrieben. Ich nutze CalyxOS auf einem Google Pixel 6 Pro und bin sehr damit zufrieden. Es ist einfach angenehmer ohne die ganzen Google Apps und die ständigen Verbindungen nach Hause. Ich versuche ständig meine Bekannten und Freunde davon zu Überzeugen es zu Probieren.